Malevil
Meyssonnier und zieht zweifelnd die Brauen hoch.
Er blickt mich an. Er blinzelt. Und ich bin von seiner Frage erschüttert. Weil er – der Mann des Fortschritts – sie aufwirft.
Und weil ich deutlich sehen kann, was er in der Zukunft, am Ende dieses Neubeginns, erblickt.
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|538| Anmerkung von Thomas
Mir fällt es zu, diesen Bericht zu beenden.
Ein persönliches Wort voraus. Emmanuel schreibt, nachdem Fulbert gelyncht war, habe er in meinem Blick »jene Mischung von
Liebe und Antipathie« gelesen, die ich ihm immer bezeigt habe.
»Liebe« ist nicht zutreffend. »Antipathie« auch nicht. Man sollte besser von Bewunderung und von Vorbehalten reden.
Diese Vorbehalte möchte ich erläutern. Ich war fünfundzwanzig Jahre, als es zu diesen Ereignissen kam, ich hatte für meine
fünfundzwanzig Jahre wenig Lebenserfahrung, und ich stieß mich an Emmanuels Gewandtheit. Ich fand sie zynisch.
Ich bin reifer geworden. Seither habe ich Verantwortung zu tragen gehabt, und ich denke jetzt anders. Ich glaube im Gegenteil,
daß jeder, der sich vornimmt, seine Mitmenschen zu führen, notwendigerweise eine tüchtige Dosis Machiavellismus braucht,
auch wenn er sie liebt.
Wie sich auf den vorstehenden Seiten häufig zeigt, war Emmanuel stets recht zufrieden mit sich selbst und stets ziemlich sicher,
recht zu haben. Diese Fehler irritieren mich nicht mehr. Sie sind nichts als die Kehrseite des Selbstvertrauens, das er nötig
hatte, um uns zu führen.
Nun, ich möchte folgendes erklären: Ich glaube keineswegs, daß eine Gruppe, weder im großen noch im kleinen, immer den großen
Mann hervorbringt, dessen sie bedarf. Ganz im Gegenteil, die Geschichte weist Zeiten auf, in denen man ein schreckliches Tief
fühlt: Der notwendige Führer ist nicht erschienen, und alles scheitert jämmerlich.
Bei uns, im kleinen, handelt es sich um das gleiche Problem. In Malevil hatten wir die große Chance, Emmanuel zu haben. Er
hat die Einigkeit aufrechterhalten und uns gelehrt, uns zu verteidigen. Und unter seiner Anleitung hat Meyssonnier La Roque
weniger verwundbar gemacht.
Wenngleich Emmanuel Meyssonnier dem Gemeinwohl geopfert |539| hat, als er ihn in La Roque einsetzte, muß man doch zugeben, daß Meyssonnier als Bürgermeister sehr gute Arbeit leistete.
Er erhöhte die Stadtmauern und ließ vor allem zwischen den zwei befestigten Toren auf halber Strecke einen mächtigen viereckigen
Turm bauen. Das zweite Stockwerk des Turmes richtete er als bewohnbaren Postenstand mit Kamin ein und stattete ihn an der
Außenseite mit abgewinkelten Schießscharten aus, die eine weite Sicht über das Land bieten. Ein hölzerner Rondengang entlang
der Wallseite verbindet diesen Turm an beiden Seiten mit den zwei Toren. Die Materialien für diesen Bau wurden aus den abgerissenen
Gebäuden der Unterstadt genommen, und der Mörtel wurde durch Lehm ersetzt.
Rings um den Wall legte Meyssonnier eine VVZ mit einem ganzen System von Fallen und Fallgruben an, das dem von Malevil nachgebildet
war. Das sehr offene, wenn auch ziemlich gebirgige Gelände ließ das Errichten einer Barrikade nicht zu, aber Meyssonnier hatte
in den Nebengebäuden des Schlosses aufgerollten, vermutlich für Einfriedungen vorgesehenen Stacheldraht gefunden, den er zur
Absperrung der beiden Zufahrtswege benutzte. Diese Maßnahme sicherte den asphaltierten Weg nach Malevil und die Bezirksstraße
durch ein ganzes System von Stacheldrahtverhauen (bei Tage geöffnet, bei Nacht geschlossen), die jede Überraschung im voraus
ausschalten sollten.
Während sich Meyssonnier, zum Teil dank Judith, die ihn sehr schätzte, mit seinem Gemeinderat und seinen Mitarbeitern gut
verstand, hatte er mit Gazel eine Differenz auf religiösem Gebiet. Dem Emmanuel gegebenen Versprechen getreu, nahm Meyssonnier
weiterhin an der Messe und am Abendmahl teil, ließ sich aber auf keine Beichte ein. Gazel, der die Fackel der strengsten Orthodoxie
wieder aufnahm, wollte wie Fulbert das Abendmahl von der Beichte abhängig machen. Darüber setzte er sich mit Meyssonnier nicht
ohne Mut vor dem Gemeinderat auseinander, und der Zwist spitzte sich zu, da Meyssonnier jedes Zugeständnis ablehnte. Wenn
ich Mist gebaut habe, erklärte Meyssonnier in grobem Ton, will ich gern eine öffentliche Selbstkritik ablegen, doch ich sehe
nicht ein, weshalb ich mein bißchen Beichte Ihnen allein reservieren soll.
Schließlich wandte man sich an Emmanuel in seiner Eigenschaft als
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