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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Harlekin-Mann regte sich ebenso wenig wie der alte Mann.
    Vielleicht, dachte sich das Mädchen, haben wir ihn unschädlich gemacht. Vielleicht muss man der Kreatur nur die Maske entreißen, damit sie sich nicht mehr rühren kann.
    Vielleicht, vielleicht, vielleicht…
    »Catalina.« Langsam, unendlich langsam, drehte sich der Kartenmacher zu dem Mädchen um. Catalina sah die Furcht in den alten Augen. »Du musst ohne mich gehen, schnell.«
    Stumm schüttelte sie den Kopf. Nein, das konnte sie nicht, das würde sie niemals tun.
    »Ich bleibe bei Ihnen«, sagte sie.
    Der alte Márquez tat einen Schritt auf das Mädchen zu. Ehe sich Catalina versah, hatte er sie bei der Hand gegriffen und zu sich gezogen. Nie und nimmer hätte sie gedacht, wie stark der alte Mann noch war. »Lauf, Catalina, bitte!«, flehte er sie an. Einen weiteren Schritt kam er auf sie zu, sodass sie die Tortilla in seinem Atem riechen konnte.
    »Sie tun mir weh.« Catalinas Stimme war nur ein Krächzen.
    Der alte Márquez weinte und packte ihre andere Hand. Catalina schrie auf. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch es gelang ihm nicht. Catalina starrte ihn nur ungläubig an. Der Harlekin-Mann regte sich noch immer nicht.
    »Sie… tun… mir… weh!« Sie versuchte sich seinem Griff zu entziehen, aber er packte nur umso fester zu. »Warum… tun… Sie… das…?«
    Er war ihr Meister. Der Mann, dem ihre Mutter so sehr vertraute, dass sie ihre einzige Tochter in seine Obhut gegeben hatte.
    Er schlug die Augen nieder und Catalina folgte seinem Blick. Was sie dort am Boden sah, konnte sie nicht glauben.
    »Was geschieht mit Ihnen?«, stammelte sie.
    Die Schatten, die dem Harlekin-Mann eben aus dem Gesicht geflossen waren, hatten sich mit dem des Kartenmachers verbunden. Niemals zuvor hatte das Mädchen etwas Ähnliches gesehen. Arcadio Márquez war nun nichts weiter als eine Marionette. Sein Schatten gehorchte nicht länger ihm allein. Nein, es war der Körper des Kartenmachers, der nun das tun musste, was der fremde Schatten ihm auftrug. Eine verdrehte Welt, aus der es kein Entrinnen mehr geben mochte.
    »Bitte!« Jetzt flehte Catalina förmlich.
    Der Griff um ihre Handgelenke verstärkte sich. So fest packte der alte Mann zu, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die feinen Äderchen auf seiner Haut färbten sich dunkel.
    »Catalina.« Selbst diesen Namen auszusprechen gelang ihm kaum mehr.
    »Lassen Sie mich los!«
    Er schüttelte den Kopf.
    Sie wimmerte und in ihrer Verzweiflung trat sie ihm schließlich mit aller Kraft gegen das Schienbein. Im Gesicht des alten Kartenmachers spiegelten sich Überraschung und Schmerz. In einem Reflex ließ er die rechte Hand des Mädchens los, um nach seinem Bein zu greifen. Die andere Hand packte jedoch nur umso fester zu.
    Er fürchtet sich davor, mich laufen zu lassen, dachte sie, weil die Schatten ihn dafür bestrafen werden.
    Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid«, schluchzte sie. Dann riss sie ihren Meister mit der freien Hand und aller Kraft an den Haaren.
    Das zeigte Wirkung. Der Kartenmacher ließ sie augenblicklich los. Catalina verlor das Gleichgewicht, taumelte rückwärts, stieß gegen die Kante des Küchentischs und fiel zu Boden. Die Schmerzen flammten jetzt überall auf. Sie spürte die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen. Herrje, sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte. Sie wusste nicht einmal, ob sie wegen der Schmerzen weinte oder aufgrund der Tatsache, dass sich der einzige Mensch, dem sie während der vergangenen Monate vertraut hatte, nun gegen sie wandte. Aus einem Grund, den sie nicht einmal richtig kannte.
    Ein Zischen, laut und schneidend.
    Sie riss den Kopf herum und sah den Harlekin-Mann, der noch immer reglos an seinem Platz stand. Seelenruhig schien er einfach nur abzuwarten, was der alte Kartenmacher tun würde.
    Catalinas Blick fiel auf die Leiter, die in den zweiten Stock hinaufführte, dann schaute sie zur Tür, die noch immer offen stand. Würde sie es schaffen, dort hinauszugelangen?
    Nein – unmöglich. Der Harlekin-Mann stand zu dicht am Ausgang. Entweder der Kartenmacher oder der Harlekin-Mann selbst würden sie schnappen. Sie hatte keine Wahl. Ihr blieb nur die Flucht nach oben.
    Das ist eine Sackgasse, schoss es ihr durch den Kopf.
    Du vergisst die Windmühlenflügel.
    Und das bedeutete…
    Was?
    Wenn sie es bis zur Leiter schaffen würde, dann könnte sie nach oben klettern, die Königsspindel entriegeln und so die Flügel in Gang

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