Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Zeit, die dunklen Gedanken zu verscheuchen und an die Zukunft zu denken. Denn wenn er ehrlich war, hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.
Ohne richtiges Ziel betrat er den Arrabal, die kleine Unterstadt von Montjuic.
Die Häuser wuchsen hier dicht gedrängt, eins neben dem anderen, sodass der klare Nachthimmel an vielen Stellen nicht mehr als ein schmales Fleckchen zwischen den Häuserdächern und Balkonen war.
Langsam schlenderte er durch die Gassen und sah sich aufmerksam um. Es wurde Zeit, sich einen Platz für die Nacht zu suchen. Im schlimmsten Fall würde er in einer verlassenen Häuserecke schlafen oder im hohen Gras im Parc de Montjuic, der gleich hinter dem Kastell zu finden war, aber vielleicht ergab sich ja noch etwas anderes.
Er spürte die frische Nachtluft im Gesicht und musste kurz lächeln, als ihm bewusst wurde, dass er es wirklich getan hatte. Er war dem alten Leben davongelaufen und hatte es geschafft, die Fesseln abzustreifen, die ihn all die Jahre eine Marionette hatten sein lassen. Hoch oben funkelten die winzigen Sterne am Firmament über Barcelona und die Musik, leise und beschwingt, war einfach überall.
In einer schmalen Gasse befand sich Jordi, der Carrer de Roman Pinol. Kaum jemand sonst war hier, denn es gab nur wenige Geschäfte in dieser Gegend.
Dann hörte er das Mädchen schreien.
Die kleine Windmühle, die jemand hoch oben auf einem der Häuser erbaut hatte, war Jordi vorhin schon aufgefallen. Er hob den Blick und sah etwas auf sich zukommen. Der Schrei, da war er sich sicher, war von dort oben gekommen. Jordi bemerkte einen tiefdunklen Schatten im Nachthimmel, der sich ihm rasend schnell näherte.
Plötzlich prallte etwas mit voller Wucht gegen ihn, schleuderte ihn polternd und unsanft zu Boden. Ein Keuchen entrann seiner Kehle, wurde erstickt von Staub und fleckiger Finsternis – und die Welt, die eben noch bunt und schön gewesen war, wurde nachtschwarz und still.
Flickenfetzen
Catalina musste etwas tun. Sofort! Die Zeit rannte ihr nur so davon.
Die Schatten flossen wieselflink aus der Bodenluke in den Raum hinein und dem Mädchen war, als böten sie alle Kraft auf, die in ihnen steckte. Der alte Márquez kauerte mit wiegendem Oberkörper auf dem Boden. Seine Finger waren zu Krallen gebogen und sein sonst so gütiges Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, in der Furcht und Jagdfieber gleichermaßen aufblitzten.
Ganz deutlich glaubte das Mädchen zu erkennen, dass sich der alte Mann nur äußerst widerwillig seinem Schicksal fügte. Es war, als verabscheue er jede einzelne Bewegung, die der Schatten ihn ausführen ließ. Er wollte Catalina nichts zuleide tun. Doch gleichzeitig wusste er, dass genau das passieren würde. Denn das war es, was der Schatten, der ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte, von ihm verlangte.
Der Harlekin stand reglos in der Bodenluke. Die Maske bedeckte wieder die Stelle, an der vormals nur Dunkelheit geherrscht hatte. Durch den Mundschlitz zischte es.
Márquez, der in die Richtung des Maskierten schaute, gehorchte. Langsam richtete er sich auf. Die anderen Schatten, die unter dem umgestürzten Tisch hervorkrochen, wirkten träge und unentschlossen. Wie zäher Sirup flossen sie über die Dielen auf die Füße des Mädchens zu.
Furchtsam trat Catalina einen Schritt zurück. Und noch einen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was sollte sie nur tun?
Die Fenster waren noch verriegelt, und da der Harlekin die kleine Luke im Boden ganz und gar ausfüllte und ihr den Weg nach unten versperrte, blieb ihr keine andere Wahl, als den Plan, den sie eben noch als zu gefährlich und unsinnig verworfen hatte, in die Tat umzusetzen.
Eine andere Lösung gab es nicht.
Sie wich zurück, so schnell es ging, und als sie am Fenster angelangt war, riss sie die Läden auf. Sofort strömte frische Nachtluft in den Raum hinein und kühlte ihr Gesicht, das nass von Schweiß und Tränen war.
Fast gleichzeitig spürte sie ein Ziehen und Zerren an ihrem Arm. Erschrocken starrte sie auf den Schatten, den ihr Arm in den Raum warf. Mit dem Licht, das nun auch von draußen in den Raum drang, war der Schatten gewachsen. Über den Boden kroch er und weiter hinten dann die Wand hinauf, wo die unnatürlich lang gezogenen Finger die niedrige Decke zu berühren schienen. Wie Spinnenbeine bewegte sich der Schatten dort drüben.
Catalina schluckte. Was passiert mit mir?, fragte sie sich angstvoll.
Ihr Blick raste zum Fenster. Klein und viereckig war es, das
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