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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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kleine Brocken, die in den Lücken steckten, feinster Staub, der die winzigen Steinterrassen bedeckte und jedes Mal aufgewirbelt wurde, wenn eine Eidechse ganz schnell das Weite suchte. Dies alles war die Welt, wie die Eidechse sie kannte, in der sie aufgewachsen war. War es ihr möglich, zu erkennen, dass es eine Straße gab? Oder gar etwas, das jenseits der Straße lag? Erkannte sie die Lichter der singenden Stadt und wusste sie von den Menschen? Oder sah sie nur Schuhe und spürte den Boden erzittern, wenn jemand vorüberging?
    Die Frage, die dieser folgte, war weitaus beunruhigender.
    Sehe ich die Welt wirklich so, wie sie ist? Oder ist das, was ich sehe, nichts als ein Trugbild?
    Diese Frage hatte sich Jordi während der vergangenen beiden Stunden so oft gestellt, dass er sie gar nicht mehr zu zählen vermocht hatte. Natürlich hatte er dabei an den Harlekin-Mann denken müssen. Natürlich hatte es etwas mit dem Leuchtturm zu tun.
    Und nun, da er sich mit angewinkelten Beinen auf dem Boden niedergelassen hatte und die kleine Eidechse beobachtete, stellte er sich die Frage erneut. War er nicht selbst wie die Eidechse, die nur ihre eigene kleine Welt sah? Wenn jemand die Mauer zerstören würde, dann wäre die Eidechse todunglücklich, weil sie gar nicht verstehen könnte, dass es noch andere Mauern gab, noch andere Städte – ganz zu schweigen von anderen Ländern. Sie würde nur die zerstörte Mauer sehen und sich fragen, was sie nun tun sollte. Sie wäre verzweifelt.
    Jordi warf einen Blick zurück.
    Er hatte das nicht vorgehabt, aber manchmal tat man eben Dinge, obwohl man es nicht wollte.
    Der Leuchtturm draußen vor Port Vell ließ einen dünnen Lichtkegel über das Wasser wandern. Malachai Marí hatte es sich also einfach gemacht und die Lampe so eingeschaltet, wie sie war. Die Leuchtkraft reichte bei Weitem nicht aus, aber das schien ihn nicht zu kümmern.
    Der Leuchtturm, dachte Jordi, war meine Mauer und meine Welt.
    Niemals hätte er geglaubt, dass es allein seine Entscheidung war. Und jetzt? Noch immer erfüllte ihn ein unbändiges Gefühl von Freiheit, während er gleichzeitig die Dinge in dieser neuen Welt zu begreifen versuchte, von denen er lieber nichts gewusst hätte.
    Unterwegs hatte er noch zwei weitere Harlekin-Gestalten gesehen, eine in der Carrer d’Aldana, die andere in der Del Poeta Cabanyes. Die Masken sahen bei jedem von ihnen ein wenig anders aus. Wenn man genau hinschaute, konnte man die Unterschiede erkennen. Die Menschen auf den Straßen indes schienen sich an der Gegenwart der Wesen nicht zu stören; die Harlekin-Gestalten aber interessierten sich umgekehrt sehr wohl für sie, das hatte Jordi erkannt. Sie suchten etwas, genau danach sah es aus. Sie standen oft nur da, für Augenblicke, und schienen Witterung aufzunehmen. Sie sprachen arglose Passanten an, und wenn sie dies taten, dann kamen die Harlekin-Masken den Menschen so nah, dass man förmlich spüren konnte, wie kalte Schatten sich auf die Gesichter legten und das Lächeln erstarb. Die Menschen waren danach anders. Sie pfiffen keine Lieder mehr, gingen etwas gebeugt und schienen plötzlich auf der Suche nach etwas Bestimmtem zu sein. Oder jemandem Bestimmten womöglich, das konnte Jordi nicht sagen.
    Aber wer gab den Harlekin-Männern Befehle? Auf wessen Geheiß durchstreiften sie die singende Stadt? Jordi hatte den eiskalten Hauch gespürt, als er nur mit einer einzigen der Kreaturen zusammengestoßen war. Es war, als hätte die Nacht ihn gestreift, für einen kurzen Augenblick. Das gleiche Gefühl hatte er gehabt, als er zum ersten Mal die fliegende Galeone erblickt hatte.
    Er konnte sie von seinem Platz an der Mauer aus sogar sehen. Noch immer lag sie vor der Hafeneinfahrt. Die Gebläsemaschinen waren verstummt und die Meduza lag mit ihrem dicken Bauch tief im Wasser, wie es all die anderen Schiffe auch taten. Die dunklen Segel hingen schlaff an den zwei Masten und die Takelagen waren verwaist.
    Jordi spürte, wie eine Gänsehaut über seinen Rücken lief, und wendete den Blick ab. Eins jedenfalls stand fest: Wo auch immer die Maskierten herkamen, wenn sie sich weiter auf ihre Art und Weise treue Anhänger verschafften, dann würde in den Straßen von Barcelona bald eine Treibjagd von ungeahnten Ausmaßen stattfinden. Und Jordi wollte nicht in der Haut desjenigen stecken, der die Beute war.
    Die Eidechse huschte in ihr Mauerversteck und klimperte dabei, wie winzige Glöckchen es tun. Jordi sprang von der Mauer. Höchste

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