Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
alles war anders geworden.
Ihre Mutter hatte vorausgesehen, was passieren würde. Die Frage blieb, warum.
Warum gerade ich?
Darauf lief es immer wieder hinaus. Weil ihre Mutter eine Hexe war? Herrje, noch immer konnte sie kaum glauben, dass dies die Wahrheit sein sollte. Wenn sie an Hexen dachte, dann dachte sie an Märchen. An uralte Weiber mit krummen Nasen und Kopftüchern und Warzen im Gesicht.
Sarita Soleado war eine hübsche Frau. Nein, unmöglich, dass sie eine Hexe war!
Und wenn die Wirklichkeit anders aussah als die Märchen, was dann?
Die Karte war jedenfalls keine Einbildung gewesen. Der alte Márquez hatte sie ihr vor die Nase gehalten und sie hatte selbst sehen können, wie sich die Karte zu ändern vermochte. Vor ihren eigenen Augen waren die säuberlich gezeichneten Linien zerflossen, waren neue Wege, Straßen und Plätze entstanden, hatte die singende Stadt ihre alten Kleider abgeworfen und im Ablauf der Jahrhunderte neue übergestreift. Dabei war es doch nur eine Karte gewesen, eine Zeichnung, angefertigt mit Tusche und Farbe, auf einem gewöhnlichem Pergament.
Wie auch immer – Sarita Soleado hatte eine Karte angefertigt, die sich verändern konnte. Da biss die Maus keinen einzigen Faden ab.
Plötzlich kam Catalina ein Gedanke, so unvermittelt, dass sie zusammenzuckte und sich zu der nagenden Ungewissheit kreischende Furcht gesellte.
Hatte ihre Mutter deswegen die Cala Silencio verlassen? Hatte sie am Ende gar von den Schatten gewusst und war vor ihnen geflohen?
Was, wenn die Schatten sie sogar schon in ihre Gewalt gebracht hatten? Das würde zumindest erklären, wie sie von der Windmühle und dem Kartenmacher erfahren hatten. Denn nur Sarita Soleado hatte gewusst, wo sich ihre Tochter aufhielt.
Wenn dies wirklich so war, dann… wurden neue Fragen geboren, wieder und wieder und immer, immer wieder. Warum waren die Schatten hinter ihrer Mutter her? Wegen der Gabe, die lebendigen Karten zu zeichnen? Vielleicht – sogar ganz bestimmt. Aber was hatten die Harlekins davon, jemanden wie Sarita Soleado in ihre Gewalt zu bringen? Es musste mehr dahinterstecken, so viel war sicher.
»Wir sind da!«, sagte Jordi.
Catalina blinzelte und spürte, wie der Flickenfetzen sanft aufsetzte. Gleich darauf hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen.
Jordi stand bereits neben dem Flickenfetzen. Die verletzte Hand drückte er fest gegen den Körper.
»Wir müssen auf der Hut sein.« Jordi sah sich sichernd um.
»Jordi… du musst nicht mitkommen«, sagte Catalina zögernd und wusste gleichzeitig, dass sie eigentlich das Gegenteil meinte. Aber er hatte sich seine Hand verbrannt, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Sie wollte einfach nicht, dass noch mal ein Mensch ihretwegen so leiden musste. »Ich meine, wenn diese Harlekins und ihre Schatten erneut auftauchen, dann bist auch du in Gefahr…«, stammelte sie. »Ich kann dir jetzt nicht alles erklären, aber sie werden sich ganz sicher nicht damit zufriedengeben, dass ich ihnen entwischt bin. Und wenn sie uns finden, dann…«
Er sah ihr direkt in die Augen, kurz nur. »Erinnerst du dich an den Leuchtturm, vorhin am Port Vell?«
Verdutzt hielt sie inne und sah ihn fragend an.
»Das war einmal mein Zuhause.« Plötzlich huschte etwas wie Trauer über seine Miene. »Ich bin weggelaufen«, sagte er. »Und jetzt sind wir hier, und wie es aussieht, kannst auch du nicht mehr zurück.« Er machte einen tiefen Atemzug. »Wäre es nicht besser, wenn wir zusammenbleiben? Ich meine nur, dass…« Er schwieg betreten und schaute schnell woandershin. Dann hob er wieder den Blick. »Du weißt schon, was ich meine.«
Sie lächelte. »Weiß ich das?«
Die Menschen, die geschäftig ihres Weges gingen, beachteten den Jungen und das Mädchen nicht. Männer gingen eifrig diskutierend und mit Pfeifen in den Mündern in die Cafès, die sich drüben beim Palau Montaner befanden. Vornehme Frauen mit sonderbaren Hüten flanierten gelangweilt und ziellos herum und rümpften die Nasen, wenn sie den Geruch des Kanals bemerkten. Spitze Boote bevölkerten den Kanal, und wenn die Kapitäne wütend waren, dann schlugen sie nach den Fischen, die sich an manchen Stellen wie Mücken in der Luft sammelten. Das Leben war, wie es immer war. Von den Harlekins war nichts zu sehen, und das war gut so.
»Ich muss jemanden finden«, sagte Catalina leise. »Du könntest mir suchen helfen.«
Jordi lächelte, was mehr sagte, als Worte es hätten tun können.
El Cuento wehte von einer
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