Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
fuhren die Zeilen entlang, als er las. »Die Familie Karfax ließ eine Armada aus dunklen Schiffen bauen, die sogar zu fliegen vermochten. Die Meduza war das Flaggschiff der Flotte. Die Galeone, die alle anderen angeführt hat.«
Catalina fröstelte. Sie stellte sich einen dunklen Himmel vor, bedeckt von fliegenden Schiffen, deren schwarze Segel wie Wolkenfetzen aus Nacht aussahen. Sie stellte sich vor, wie die Menschen ihre Blicke gen Himmel erhoben und nach der Flotte Ausschau gehalten hatten. Wie die fliegenden Schiffe in den Städten und Dörfern vor Anker gegangen waren. Wie Gerechtigkeit in den Prozessen gestorben war. Sie stellte sich vor, was die Menschen wohl alles getan hatten, um ihren eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
»Es ist eine dunkle Zeit gewesen«, sagte Firnis. »Jeder hat jeden verraten. Es wurden Anschuldigungen ausgesprochen. Neid, Missgunst und Furcht waren noch viel schlimmer als die Scheiterhaufen.«
»Was ist aus der Armada geworden?«, wollte Jordi wissen.
»Das weiß niemand.« Firnis wirkte betrübt. »Es gab Kriege und am Ende war ein neuer Pontifex an der Macht. Die alte Welt veränderte sich und die fliegenden Schiffe verschwanden.«
»Aber die Meduza ist wieder da.«
Firnis seufzte. »Karim Karfax«, raunte er den Namen, »ist der neue Arxiduc von Gibraltar. Vielleicht ist er derjenige, der mit der fliegenden Galeone hierhergekommen ist.«
»Aber warum?«
»Das, mein Kind, steht in keinem Buch. Das weiß nur der Arxiduc allein.«
»Hat der Arxiduc etwas mit Schatten zu tun?«, fragte Jordi geradeheraus.
Firnis schaute auf. »Wie meinst du das? Welche Schatten?«
»Gibt es vielleicht Geschichten über die Familie Karfax, in denen Schatten auftauchen?«
Firnis kratzte sich am Kopf und schaute in das Buch, das auf dem Tisch lag. »Davon ist mir nichts bekannt«, murmelte er, aber die Buchstaben in seinen Augen tanzten aufgeregt herum. »Und doch… da war doch was… nur wo?« Mit dem Zeigefinger tippte er auf das Bild, den Holzschnitt. Er durchforstete den Buchstabenwald und sagte nach einer Weile: »Kassandra Karfax.« Dann sprang er auf und kletterte wie ein Äffchen auf den Leitern herum. Hoch oben in den Regalen schlug er dicke Bücher auf, aus denen wilde Buchstaben herauspurzelten, klappte sie wieder zu, strich sich die krabbelnden Buchstaben von der Schulter, kletterte weiter, suchte und suchte und suchte. Schließlich hielt er ein dünnes Büchlein in der Hand, steckte die Nase hinein, klappte es mit einem Nicken zu und kehrte zum Tisch zurück. »Man muss nur lange genug suchen«, murmelte er freudig, »dann findet man es auch.«
»Wer ist Kassandra Karfax?« Allein ihr Name, fand Catalina, hörte sich schon unheilschwanger an.
»Eine Künstlerin«, keuchte Firnis, noch ganz außer Atem.
Er klappte das Buch an der Stelle auf, an der sein Finger zwischen den Seiten gesteckt hatte.
»Kassandra Karfax war die Mutter von Kaifas Karfax, dem ersten Arxiduc. Als Schülerin Ferrer Bassas hatte sie schon als Mädchen mit der Malerei begonnen. Das Porträt des Arxiduc stammt von ihr.«
»Hat sie etwas mit Schatten zu tun?«
Er nickte. »Na ja, indirekt. Sie soll ein Bild gemalt haben, das angeblich nie jemand zu Gesicht bekommen hat.«
»Was für ein Bild?«
»Ich kenne nur den Titel. La Reina de la Sombra. Die Schattenkönigin. Das ist alles.« Firnis schaute von Catalina zu Jordi und von Jordi zu Catalina. »Es kann sein, dass es nur ein Mythos ist. Geheimnisvolle Bilder gab es früher zuhauf. In jedem Dorf kannte man Geschichten, die von ihnen zu berichten wussten.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Märchen.«
»Was ist mit Hexen?«
Firnis musste lächeln. »Hexen?«
»Ja.«
»Was soll mit ihnen sein? In den alten Geschichten gibt es Hexen, jede Menge sogar. Ich kann einige davon vorlesen, wenn du möchtest.«
»Und in Wirklichkeit?«
Er lachte laut. »Nein, Mädchen. Es gab Prozesse, in denen Hexen verurteilt wurden.«
»Die Prozesse, für die Karfax die Gefangenen geliefert hat.«
»Genau.«
»Was geschah dort?«
Firnis seufzte. »Es waren unschuldige Frauen, die etwas Besonderes zu tun vermochten.«
Catalina horchte auf, wurde aber enttäuscht. Lebendige Karten zeichnen zu können gehörte nicht zu den Dingen, die Firnis nannte.
»Sie stellten Salben und Heilmittel her und nutzten die Kräuter und die Kräfte der Natur. Sie sagten den Menschen die Zukunft voraus und verdienten sich mit Tricks und Scharlatanerie wenig Geld. Aber es
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