Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
tief, so fest.
Die Menschen der alten Zeit hatten sie bei vielen Namen genannt. Namen, die furchtsam geflüstert worden waren und an die sich nun niemand mehr richtig erinnerte: La Reina, die Königin. La Soberana, die Herrscherin. La Creadora, die Schöpferin. Ihre Kinder selbst nannten sie La Madrina de la Sombra, die Beschützerin der Schatten. All das war sie und doch nichts davon. All das und so viel mehr.
La Sombría.
Das war der Name, bei dem er sie rief, ein Name wie ein Lied, das er schon als Kind in seinen Träumen gesungen hatte.
Er öffnete die Augen und betrachtete das Bildnis. Dann streckte Karim Karfax die Hand aus und legte sie flach auf das Bild.
Die grobe Leinwand war wie eine Membran, die atmete. Es wurde kalt und ihm war, als risse die Leinwand auf, als quöllen die Farben aus dem Bild und flössen ihm über die Hand. Erst wie Eisregen, dann wie fließender Frost.
Die Schatten troffen aus dem Bild.
Seinen Arm krochen sie entlang, langsam, klammerten sich daran, wie eine Schlange es wohl getan hätte.
Karim Karfax ging zurück zu der leblos am Boden liegenden Kleidung des Eistreters. Er kniete sich daneben, berührte die Maske und schaute zu, wie die Schatten, die eben noch seinen Arm umschlungen hatten, zuerst in die Maske und dann in die schwarze Kleidung hineinflossen. Der neu geborene Eistreter nahm Gestalt an.
Karim Karfax erhob sich. Einen Moment lang schaute er in die nachtfinsteren Augenschlitze. Der Eistreter zischte etwas.
»Finde Catalina Soleado«, befahl Karim Karfax dem Schattenwesen. »Finde sie schnell.«
Er lauschte den Geräuschen der Nacht, den bunten Melodien der singenden Stadt, die verklingen würden. Er dachte daran, wie Barcelona und die Welt ohne Farben aussehen würden – und wurde eins mit der Dunkelheit, die immer noch der einzige Schatten war, der das Eis in seiner Brust umarmte.
Zwei Leben
Jordi kannte Catalina doch erst seit wenigen Stunden. Sie war in sein Leben gepoltert und jetzt war sie da, einfach so.
Komisch, wie Dinge manchmal passieren.
Reverte hatte sie in die Küche mit den gelben Kacheln und den grün lackierten Möbeln aus warmem Holz geführt und ihnen süße dunkle Schokolade gekocht. Nun holte er Brot und Käse herbei und richtete ihnen ein einfaches Mahl.
»Stärkt euch«, sagte er und ging zur Tür. »Wenn ihr fertig seid, bringe ich euch nach oben in den Nadelturm. Dort könnt ihr euch ausruhen.«
Eine Weile aßen sie schweigend, doch schließlich legte Catalina ihr Messer beiseite und wischte sich über den Mund.
Erinnerst du dich, was du mich gefragt hast, als ich mit dem Flickenfetzen in dich hineingeprallt bin?«, begann sie.
Jordi starrte sie unsicher an.
»Ich glaube, ich habe dich gefragt, wo du herkommst«, sagte er und musste lächeln. »In Anbetracht der Situation keine schlechte Frage, oder?«
Sie nickte. »Ich habe geantwortet: ›Das ist eine sehr lange Geschichte. Oder auch nicht, je nachdem.‹« Sie blickte ihn an. »Willst du sie hören?«
Jordi nickte. Aber es war nicht die Länge der Geschichte, die ihn in Staunen versetzte.
Sie begann damit, ihm von ihrer Heimat zu erzählen, eine kleinen Bucht nahe Talamanga, ein ruhiges Plätzchen im Südwesten, mit klarem Wasser und weißem Sand. Jordi hörte ihr an, wie sehr sie ihr Leben in der Cala Silencio geliebt hatte.
»Später in der Windmühle…«, sagte sie zögernd. »Da kam es mir manchmal so vor, als sei es nur ein schöner Traum gewesen. Ein Bild von einer Welt, die warm und sorglos war.« Sie schwieg in Gedanken versunken.
»Und wie bist du nach Barcelona gekommen?«, fragte Jordi.
Catalina sah ihn an. »Meine Mutter wollte, dass ich die Kunst der Kartografie erlerne. Sie hat hier gelebt, als sie noch ein Mädchen war. Bevor sie geheiratet und mich gekriegt hat.«
Sie hob den Kopf und blickte zum Fenster herüber, wo gerade eine steinerne Taube gegen das feine Maschennetz pickte. »Sie versprach mir, dass ich eines Tages wunderschöne Karten zeichnen könnte. Solche, die Seeleute durch Untiefen lenken und Reisenden den Weg weisen. Sie selbst hatte von Márquez die Kunst des Kartenmachens gelernt.«
Catalina räusperte sich. »Aber ich glaube, das war nicht der einzige Grund, warum wir nach Barcelona gekommen sind.«
Und während Jordis Augen immer größer wurden, erzählte Catalina ihm eine unglaubliche Geschichte. Sie erzählte von ihrem überstürzten Aufbruch in die Stadt, von ihrer Mutter, die sie seit jenem Tag, als sie von ihr in der
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