Malice - Du entkommst ihm nicht
nicht ganz geleert worden. Nachdem sie noch ein paar weitere versuchsweise geschüttelt hatte, war klar, dass der Comicverkäufer keine davon ausgetrunken hatte.
Sie wusste zwar nicht, was sie daraus schließen sollte, aber irgendwie war es ihr nicht geheuer.
Dann entdeckte sie eine Ausgabe von Malice, die neben dem Bett lag. Sie steckte in dem schwarzen Umschlag aus Wachspapier und war noch nicht geöffnet worden. Kady hob das Heft mit spitzen Fingern auf, als wäre es radioaktiv verseucht, und hielt es so weit wie möglich von sich weg, bevor sie es hastig in ihre Tasche schob. Da, wo sie das Papier berührt hatten, fühlten sich ihre Fingerspitzen kalt und taub an, und ihre ganze Hand prickelte, als wäre sie eingeschlafen. Lautlos huschte sie in den Flur hinaus. Der Putz an den Wänden war rissig und fleckig und der abgetretene erbsengrüne Teppich rollte sich an den Rändern auf. Auf der rechten Seite befand sich ein weiteres Zimmer und dahinter führte eine Treppe in das darüberliegende Stockwerk. Auf der linken Seite führte eine Treppe nach unten. Das Haus war so hoch und schmal, dass die Stimmen von unten gut zu hören waren.
» … halte es für keine gute Idee, ausgerechnet jetzt umzuziehen«, sagte die Frau streng. Sie klang wie eine Lehrerin, die mit einem ungezogenen Schüler spricht.
»Mir wird das langsam zu heiß«, erwiderte der Verkäufer. »Vor ein paar Tagen kamen zwei widerliche Blagen in den Laden. Ein Mädchen und ein Junge. Das Mädchen kam mi r … na j a … wie soll ich sagen? Ich hatte jedenfalls ein ungutes Gefühl.«
»Mir scheint, Sie leiden unter Verfolgungswahn, Icarus Scratch.«
»Ich bin nun mal Verkäufer, liebe Miss Benjamin. Die gute Menschenkenntnis brauche ich von Berufs wegen. Und der Junge, dieser dreckige kleine Dieb, der wusste etwas. Da bin ich mir absolut sicher. Der ist nur in den Laden gekommen, weil er rumschnüffeln wollte.«
»Wenn Sie befürchten, dass die beiden Ärger machen könnten, sollten wir sie vielleicht lieber loswerden.«
»Der Junge hat sich schon selbst aus dem Weg geräumt. Ich habe ihn in der neuesten Ausgabe des Hefts gesehen. Leider ist er darin noch am Leben.«
Kady presste die Hand auf den Mund.
Seth!
»Und das Mädchen?«
»Läuft noch frei herum. Das macht es ja so gefährlich. Ich glaube, die Kleine hatte auch schon einen Verdacht, als die beiden das erste Mal zu mir in den Laden kamen. Jetzt, wo ihr Freund verschwunden ist, wird sie zwei und zwei zusammenzählen.«
Kady zitterte vor Entsetzen. Wenn die beiden wüssten, dass sie nur ein paar Meter über ihnen stand und jedes ihrer Worte mitbeka m …
Zumindest kannte sie jetzt ihre Namen. Icarus Scratch und Miss Benjamin. Das war immerhin ein Anfang.
Im angrenzenden Zimmer ertönte ein dumpfes Geräusch. Kady runzelte neugierig die Stirn, rührte sich aber nicht von der Stelle, weil die Unterhaltung im Erdgeschoss viel zu aufschlussreich war, um auch nur ein Wort davon zu verpassen.
»Und Grendel? Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Miss Benjamin.
»Wer weiß schon, was in ihm vorgeht? Er zeichnet, das ist alles, was zählt.«
»Aber er zeichnet nicht das Richtige! Wieso zeigt er uns nicht auch mal etwas, was uns nützt? Zum Beispiel das Versteck von Havoc?«
Kady spitzte die Ohren. Wer oder was war Havoc ?
»Grendel zeichnet das, was er sieht«, antwortete Scratch. »Ich kann auch nichts daran ändern, dass er immer wieder zwischen den einzelnen Ansichten hin und her springt.«
Kady fragte sich, wie viel Einfluss Scratch und diese Miss Benjamin auf den Comic hatten.
Im Zimmer nebenan ertönte wieder ein dumpfer Schlag. Diesmal war er so laut gewesen, dass sie beschloss, nachzusehen, was es war. Sie schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür und presste das Ohr ans Holz. Irgendetwas bewegte sich dahinter.
»Sie sollten noch einmal nach Crouch Hollow fahren«, hallte Miss Benjamins Stimme durchs Treppenhaus. »Vielleicht schaffen Sie es ja doch noch, ihn zu überzeugen. Was Havoc sich diesmal geleistet hat, übertrifft alles bisher Dagewesene. Diese Vandalen haben einen ganzen Bereich der Bahnstrecke lahmgelegt. Wir müsse n …«
Wir müssen die Auflage erhöhen.
Die Stimme klang wie ein Fingernagel, der über eine Tafel kratzte. Kady lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie musste unwillkürlich an verrostetes Metall denken, an einen überquellenden Aschenbecher, an ein frisch ausgehobenes Grab. Da war noch eine dritte Person mit im Raum und Kady wusste instinktiv, dass
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