Malice - Du entkommst ihm nicht
warum er es ihr gar nicht erst erzählt hatte. Dabei hätte sie Recht damit gehabt, ihm diese Schnapsidee auszureden, denn jetz t … jetz t …
Seth war in Malice. Eigentlich war es unmöglic h – aber falls es sich nicht um einen extrem kranken Scherz handelte, war es die einzige Erklärung.
Gestern war sie wieder aus einem schrecklichen Albtraum hochgeschreckt. Demselben wie in der Nacht zuvo r – dem mit dem Wesen in der Kutte und dem Flammenwerfer. Sie war aufgestanden, hatte ihren Computer angemacht und Seths Mail gefunden. Als er nicht an sein Handy gegangen war, hatte sie es gewusst. Er war in Malice. Danach hatte sie natürlich kein Auge mehr zugetan.
Heute Morgen hatte sie ihren Eltern vorgeflunkert, sie würde eine Schulfreundin in Leicester besuchen, hatte sich ihre Tasche umgehängt und war querfeldein nach Loughborough marschiert, um von dort aus den Zug nach London zu nehmen. Sie hatte es gleich tun müssen, noch bevor Seths Eltern sein Verschwinden bemerkten und die Polizei alarmierten. Danach wäre es zu spät gewesen. Erst Luke und dann auch noch Seth? Ihre Eltern würden sie vor Sorge keine Minute mehr aus den Augen lassen, da war Kady sich sicher.
Außerdem tat es ihr ganz gut, beschäftigt zu sein. Wenn sie zu Hause herumgesessen und weitergegrübelt hätte, wäre sie wahnsinnig geworden. Sie war wütend auf Seth, aber vor allem hatte sie panische Angst um ihn. Was, wenn ihm dasselbe zustieß, was Luke zugestoßen war?
Weil sie bei diesem Gedanken fast durchdrehte, konzentrierte sie sich lieber darauf, stinksauer zu sein und sich von ihm verraten zu fühlen. Es war einfacher, wütend zu sein, als sich die eigene Angst einzugestehen.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mittlerweile war es kurz nach sechs und sie lag schon stundenlang auf der Lauer, ohne dass auch nur ein einziger Kunde den Laden betreten hätte. Anscheinend lief das Geschäft nicht besonders gut. Andererseits machten die bestimmt auch keine Werbung für den Laden, sondern legten es darauf an, dass er von den Jugendlichen gefunden wurde. Es brauchte nur ein Gerücht, einen geflüsterten Tipp oder einen versteckten Hinweis, um sie zu dem schäbigen Laden mit dem unheimlichen Verkäufer zu führen. Und wenn er Lust hatte, erzählte er ihnen vielleicht von einem neuartigen Comic, der Malice hieß und geheim bleiben musste. Geheimnisse machten jeden neugierig.
Kady zog sich rasch in den Schatten zurück, als plötzlich die Tür aufging und die massige Gestalt des Verkäufers herauskam. Er hatte trotz der Hitze einen Trenchcoat an und einen dieser grauen Herrenhüte, die Typen wie Al Capone in alten Gangsterfilmen trugen. Der Trenchcoat war ihm viel zu eng und passte kaum über seine breiten Schultern. Er sperrte die Tür zu und ging die Straße hinunter.
Kady wartete einen Moment, bevor sie ihr Versteck verließ und ihm folgte.
Ihr wurde schnell klar, dass es ziemlich schwierig und nervenaufreibend war, jemanden zu beschatten. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ungesehen von einer Deckung zur nächsten zu huschen, aber die menschenleere Straße bot so gut wie keine Möglichkeiten, sich unbeobachtet vorwärtszubewegen. Die Läden und Kfz-Werkstätten waren zwar alle noch offen, doch das machte es nur noch schwieriger, weil die Mechaniker sie sehen konnten. Sie hätte sich lächerlic h – und äußerst verdächti g – gemacht, wenn sie sich alle paar Meter hinter irgendwelche Briefkästen und die Pfeiler der Eisenbahnbrücke gedrückt hätte.
Zu Kadys Glück drehen sich Menschen, die eine Straße entlanggehen, nur selten um, sodass sie in einiger Entfernung unauffällig hinter dem Comicverkäufer hergehen konnte, ohne dass er sie bemerkte. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass man es spüren würde, wenn man beobachtet wird, weshalb sie es vermied, ihm direkt auf den Rücken zu starren. Obwohl sie so schnell wie möglich von einer Straßenecke zur nächsten hastete, um sich notfalls hinter eine Hauswand flüchten zu können, wusste sie im Grunde, dass es hoffnungslos war. Wenn er sich nur einmal umdrehte, würde er sie sofort entdecken. Und dann würde er warten, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, und sie mit seiner unheimlichen Fistelstimme fragen, was sie da eigentlich treibe. Und dan n … was? Kady hatte keine Ahnung und wollte es auch gar nicht wissen.
Aber er drehte sich nicht um.
Sie folgte ihm bis zur nächsten U-Bahn-Station, wo mehr Menschen unterwegs waren. Sobald am Bahnsteig ein paar Pendler zwischen
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