Malice - Du entkommst ihm nicht
sich und stemmte keuchend die Hände auf die Oberschenkel. »So schnell kommen die hier nicht rein.«
Aber Seth achtete schon gar nicht mehr auf die Moskitos, sondern bestaunte mit offenem Mund das, was sich im Inneren der Kuppel befand.
»Äh, Leute«, sagte er, »dreht euch mal um und schaut euch das hier an.«
Nach Hause
1
Der letzte Zug nach Loughborough fuhr um Viertel nach elf. Kady hätte ihn um ein Haar verpasst, weil sich jemand vor eine fahrende U-Bahn geworfen und dadurch die Circle Line lahmgelegt hatte. Das kam in London öfter vor. Die Fahrgäste in Kadys Wagen beschwerten sich mit gedämpften Stimmen darüber, wie rücksichtslos es sei, anderen Menschen solche Unannehmlichkeiten zu bereiten. Den Londonern waren diskrete Selbstmörder lieber.
Kady entspannte sich erst, als sie an ihrem Platz saß und der Zug schnaufend aus dem Bahnhof fuhr. Während der U-Bahn-Fahrt durch London hatte sie so unter Strom gestanden, dass sie laut aufgeschrien hätte, wenn ihr jemand eine Hand auf die Schulter gelegt hätte. Und auch jetzt war sie immer noch kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
Tall Jake. Miss Benjamin. Icarus Scratch. Grendel. Crouch Hollow. Andersen.
Seth.
Immerhin wusste sie jetzt mit absoluter Sicherheit, dass Seth nicht einfach nur abgehauen war oder ihr einen bösen Streich spielte.
Sie hatte mit eigenen Ohren Tall Jakes unheimliche Stimme gehört. Sie hatte in dem verschlossenen Zimmer etwa s … irgendetwas gesehen. Und sie hatte Miss Benjamin erlebt, die wie ein Tier ihre Witterung aufgenommen und geradewegs den Schrank angesteuert hatte, in dem sie sich versteckte!
Schaudernd verscheuchte Kady das schreckliche Bild, das sofort wieder vor ihrem inneren Auge stand. Sie hatte das Gefühl, am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu stehen und bei der geringsten Erschütterung zu einem zitternden und heulenden Häufchen Elend zusammenzuschrumpfen. Aber das durfte sie nicht. Ihr bester Freund schwebte in Lebensgefahr.
Sie blickte auf die Tasche in ihrem Schoß, in der der Umschlag aus Scratchs Zimmer steckte. Wahrscheinlich war es die aktuelle Ausgabe. Sie hatte wahnsinnige Angst vor dem, was sie darin zu sehen bekommen würde.
Als der Zug Fahrt aufnahm und an Cricklewood vorbeiraste, entspannte sie sich ein bisschen. Das Großraumabteil, in dem sie saß, war leer, und das rhythmische Rumpeln des Zuges war das einzige Geräusch, das zu hören war. Sie saß an einem Platz mit Tisch, starrte auf die gegenüberliegenden freien Sitze und ließ sich vom monotonen Schaukeln des Zuges einlullen. Das helle Neonlicht vermittelte ihr das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden, die von draußen abgekoppelt war. Eine Lichtkugel, die durch die Nacht jagte.
Sie versuchte die Ereignisse der letzten Stunden zu verstehen und richtig einzuordnen. Aber ihre Gedanken waren wie verängstigte Vögel, die aufgescheucht in ihrem Kopf herumflatterten und sich nicht fangen lassen wollten.
Erstens: Scratch war anscheinend mehr als nur ein einfacher Comicverkäufer. Er war der Kopf des Vertriebs, derjenige, der dafür sorgte, dass die Comics gedruckt wurden und die jugendlichen Leser erreichten. Aber wozu? Was hatte er davon?
Konzentriere dich nur auf das, was du weißt, ermahnte sie sich selbst. Wilde Spekulationen bringen dich jetzt nicht weiter.
Zweitens: Tall Jake existierte. Der Gedanke löste augenblicklich Panik in ihr aus und sie begann am ganzen Körper zu zittern.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, überlegte sie weiter.
Tall Jake wollte, dass noch mehr Jugendliche das Heft lasen, weil dann wahrscheinlich noch mehr von ihnen den Spruch sagen und sich von ihm in seine kranke Welt entführen lassen würden. Wieder fragte sie sich: Wozu?
Tall Jake und Scratch waren Geschäftspartner. So viel stand fest. Und Scratch hatte offenbar einige Macht über Tall Jake. Immerhin hatte der Mann aus Malice sich Scratchs Entscheidung gebeugt, den Comic weiterhin geheim zu halten.
Drittens: Tall Jake hatte Feinde. Das hatte er selbst gesagt. Er hatte davon gesprochen, dass sie sich versteckten, und offenbar waren sie mächtig genug, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Das konnte ein Hoffnungsschimmer sein.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie Miss Benjamin den schwarzen Kater angeblafft hatte, der im Haus aufgetaucht war und sie gerettet hatte.
» Du gehörst zu ihr, hab ich Recht?«
»Ich kenne dich. Ich weiß sogar, wie du heißt. Du bist
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