Malice - Du entkommst ihm nicht
Gedanke ließ ihm den Atem stocken. Er musste sich hinsetzen und lehnte sich an eine niedrige Mauer. Sie begrenzte einen See, dessen Wellen aus dünnem Stahlblech sich hoben und senkten, als gehörten sie zu dem Bühnenbild eines schlechten Theaterstücks.
»Hey, spinnst du?« Colm kam zu ihm zurückgerannt.
»Ich hätte nicht gleich herkommen dürfen«, murmelte Seth erschüttert. »Ich hätte warten sollen. Ich hätte vorher gründlich darüber nachdenken müssen.«
»Alter, für so was haben wir jetzt echt keine Zeit.« Justin packte ihn am Arm und zog ihn wieder auf die Füße.
Seth ließ sich wie in Trance aufhelfen. »Es ist allen so gegangen wie Henry Galesworth.«
»Dein Kumpel ist verrückt geworden«, sagte Colm zu Justin und tippte sich an die Stirn.
»Nein. Hört mir zu!«, rief Seth aufgeregt. »Mir ist gerade was Schreckliches klar geworden. Ich kann hier nicht weg! Wisst ihr, warum keiner von denen, die rausgekommen sind, je über Malice gesprochen hat? Weil sie sich an nichts mehr erinnert haben!«
Justin schubste ihn in einen schmalen Durchgang zwischen einem Zerrspiegelkabinett und einem kleinen Riesenrad, in dem mechanische Kinder saßen, die lachend winkten, während sie im Kreis herumfuhren. »Das ist ja alles sehr interessant, aber wenn du nicht willst, dass wir hier alle draufgehen, solltest du nicht mitten auf dem Weg stehen bleiben und Vorträge halten, okay?«
Seth lehnte sich gegen die Wand des Spiegelkabinetts. Seine Gedanken überschlugen sich.
»Also gut«, sagte Justin. »Jetzt bitte noch mal zum Mitschreiben.«
»Wir haben da so einen Jungen kennengelernt. Henry Galesworth. Er war in Malice, aber als er zurückkam, konnte er sich nicht erinnern, wo er gewesen war. Er hatte alles vergessen, sogar dass er den Comic jemals gelesen hat. Wir dachten, dass er es nu r … keine Ahnun g … verdrängt hat oder so was in der Art, weil er mit ansehen musste, wie sein Bruder getötet wurde. Aber jetzt ist mir klar geworden, dass es vielleicht einen anderen Grund gibt. Was ist, wenn jeder, der in Malice war, vergisst, wo er gewesen ist? Das ist die einzige Erklärung, warum der Comic so lange ein Geheimnis bleiben konnte.«
»Du meinst, wenn man hier rauskommt, erinnert man sich an gar nichts mehr?« Colm schnaubte. »Umso besser. Auf die Erinnerung verzichte ich gern.«
Colm hatte gar nichts kapiert. Sie hatten beide nichts kapiert. Es war sinnlos. Ganz egal, was er hier herausfand, er würde nicht in der Lage sein, die Informationen draußen an Kady weiterzugeben. Falls es ihm gelingen sollte, aus Malice herauszukommen, würde es ihm so ergehen wie Henry. Er würde Kady nicht helfen können. Er würde nichts gegen Black Dice, den Verkäufer oder Grendel ausrichten können. Er würde keine Chance haben, den Leuten, die den Comic herausbrachten, das Handwerk zu legen, denn sobald er in seine Welt zurückkehrte, war alles vorbei. Sein Kopf würde so leer sein wie das Heft, das er in Lukes Wäschekommode gefunden hatte.
Idiot , beschimpfte er sich selbst. Wie immer hatte er sich kopfüber mitten ins Abenteuer gestürzt, ohne vorher zu überlegen, was er tat. Er hatte nicht eine Sekunde innegehalten, bevor er gesprungen war. Und jetzt saß er hier in der Falle, denn wenn er floh, würde er alles, was er in Malice herausgefunden hatte, vergessen haben.
Das war bislang zweifellos Tall Jakes grausamster Trick.
»Hey«, sagte Justin, als er die Verzweiflung in Seths Augen sah. »Was auch immer du gerade denkst, denk es nicht. Wenn du hier drinnen aufgibst, bist du tot. Du weißt nichts über Malice. Der Uhrenturm ist nicht alles. Da draußen gibt es noch eine ganz andere Welt, die du nicht kennst. Vielleicht hast du Recht mit deiner Vermutung, vielleicht aber auch nicht. Aber selbst wenn du Recht has t … wir finden eine Lösung, okay?« Er grinste. »Ich finde immer für alles eine Lösung, du weißt doch, was für ein Tüftler ich bin.«
Seth spürte eine warme Welle der Dankbarkeit in sich aufsteigen. Wenigstens hatte er hier drin einen Verbündeten gefunden. Nein, mehr als das. In diesem Moment begriff er, dass Justin ein Freund war. Er wusste zwar nicht, womit er sich sein Vertrauen verdient hatte, aber er war dankbar dafür.
Er wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als er stutzte. Auf den Speichen des Riesenrads hockten drei mechanische Moskitos und starrten zu ihnen herüber. Jeder von ihnen war etwa handtellergroß, aus Gold oder Messing gearbeitet und hatte ovale
Weitere Kostenlose Bücher