Malice - Du entkommst ihm nicht
Routen, aber die führten alle nur in eine Richtung: tiefer nach unten. Es hatte keinen Sinn umzukehren. Sie waren in einem Labyrinth leicht abfallender, enger Gänge und nasskalter Kammern gefangen und konnten sich jeweils immer nur in die Richtungen bewegen, die die Oubliette zuließ. Der einzig mögliche Weg nach draußen lag am Grund dieser Unterwelt, dem Ort, wo Skarla angeblich lebte.
Seth sehnte sich danach, den Himmel wiederzusehen. Und wenn es bloß der trostlose wolkenverhangene Himmel von Malice mit seinem fahlen Licht gewesen wäre.
Was sollten sie machen, wenn Justin sich getäuscht hatte? Wenn sie bis zum Grund hinabstiegen und dort niemanden antrafen? Entschlossen verdrängte er seine Zweifel.
Justin ging wieder voraus. Er hatte schon lange nichts mehr gesagt. Die Begegnung mit seinem eigenen Tod schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Seth wollte sich lieber nicht vorstellen, was ihm durch den Kopf ging.
Plötzlich blieb Justin wie angewurzelt stehen. Den Zeigefinger an die Lippen gelegt, winkte er Seth heran. Von den Wänden und der Decke tropfte literweise widerlich stinkender Schleim herab, der weißlich glitzerte und klebrige Fäden zog.
»Was ist das für ein ekelhaftes Zeug?«, flüsterte Seth. »Schlingmolche«, murmelte Justin. »Die würgen das Zeug raus, um damit ihr Territorium zu markieren. Von jetzt an müssen wir so leise wie möglich sein und dürfen kein Wort mehr sagen. Wenn du einen siehst, bleibst du auf der Stelle stehen und rührst dich nicht vom Fleck. Eine einzige Bewegung reicht und die entdecken dich sofort.«
In diesem Moment bemerkte Seth, dass Justins Gesicht nicht mehr so deutlich zu erkennen war und die Schatten im Gang näher rückten.
Ihn fröstelte.
Das Licht.
Justins Leuchtblase wurde schwächer.
2
Keiner der beiden verlor ein Wort darüber, aber Seth spürte, dass es Justin auch aufgefallen war. Er ging schneller als vorher, hastiger, nicht mehr so vorsichtig, trotz der Fallen. Jetzt saß ihnen auch die Zeit im Nacken. Früher oder später würde die Leuchtblase ausgehen, und falls es in der Oubliette passierte, war das ihr Todesurteil.
Seth hörte die Schlingmolche als Erster. Ein entferntes Rasseln, das durch die Dunkelheit zu ihnen drang. Anfangs war es noch schwierig abzuschätzen, wie viele es waren, aber als sie näher kamen, erkannte Seth, dass es Dutzende sein mussten. Wieder überkamen ihn Zweifel, aber er behielt sie für sich. Was hätte es auch gebracht, sie auszusprechen?
Außerdem machte Justin keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben. Egal, was sie da vorne erwartete, sie würden sich der Gefahr stellen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig.
Die Höhle, die sich am Ende des Ganges vor ihnen auftat, war riesig im Vergleich zu den schmalen Gängen, durch die sie bis jetzt gewandert waren. Die Decke war so hoch, dass das schwache Licht der Leuchtblase sie nicht erreichte, aber sie erkannten Balken und zerborstene Brückenpfeiler. In die Wände waren schwarze Bogenfenster eingelassen. Sie sahen einen unterirdischen Fluss und in einiger Entfernung eine Brücke, die darüberführte. Das trübe Wasser floss in kleinen Wirbeln um ein verfallenes Podest, auf dem einmal eine Statue gestanden hatte, von der jedoch nur noch die Beine übrig geblieben waren. Riesige, von oben herabgestürzte Felsbrocken warfen lange Schatten. Die Wände und der Boden waren mit klebrigem Schleim überzogen.
Und überall wimmelte es von Schlingmolchen. Sie fläzten auf Geröllhaufen, lagen flach ausgestreckt auf Steinquadern, dösten wie bleiche sechsbeinige Krokodile am Flussufer. Der Lärm, den sie mit ihren zuckenden Schwänzen veranstalteten, war ohrenbetäubend.
Vom Kopf bis zur Schwanzspitze maßen sie bestimmt über zwei Meter, waren milchig weiß und hatten große runde Saugnäpfe an den Zehen. Ihre langen Schwänze waren mit Schuppen gepanzert und endeten in einer Spitze aus rasselnden Knochenplatten. Sie hatten schmale, glatte Schädel, aus denen weiße Augäpfel hervorquollen, und gewaltige Kiefer. Aus ihrem lippenlosen Maul ragten riesige, gebogene Reißzähne. Seth musste an Tiefseefische denken, die er mal in einer Meeresdoku gesehen hatte.
Überall im Raum lagen Knochen verstreut. Bei den meisten handelte es sich um die zersplitterten Überreste kleiner Tierskelette, aber dazwischen waren immer wieder auch größere, menschliche Knochen zu erkennen. Seth sah einen Oberschenkelknochen und ein angenagtes Schlüsselbein und in der Nähe des
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