Malice - Du entkommst ihm nicht
Eingangs grinste ihnen ein halber menschlicher Schädel entgegen.
Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses erhob sich ein großes Tor mit einem Rundbogen. Ihr Ausweg aus der Hölle. Falls sie ihn jemals erreichten.
Zunächst blieben sie im Eingangsbereich der Kammer stehen und ließen den Blick durch den riesigen Raum schweifen.
Seth dachte an das, was Justin ihm auf der Zugfahrt über die Schlingmolche erzählt hatte. Sie waren vollkommen blind, weil ihnen ihr Augenlicht in der endlosen Dunkelheit der Oubliette ohnehin nichts genützt hätte. Stattdessen orteten sie ihre Beute anhand von Geräuschen und Bewegungen. Sie hatten äußerst empfindliche Ohren und orientierten sich ähnlich wie Fledermäuse.
Justin nahm an, dass ihre rasselnden Schwänze dazu dienten, Töne einer bestimmten Frequenz auszusenden, die von Hindernissen zurückgeworfen wurden und es den Schlingmolchen so ermöglichten, sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Wenn man ganz still dastand, hielten sie einen für ein Stück leblose Materie. Justin hatte ihm erzählt, dass er eine Ausgabe von Malice gelesen hatte, in der es einem Jungen gelungen war, sich an einem Schlingmolch vorbeizuschleichen, indem er sich ganz langsam vorwärtsbewegt hatte.
» Wie langsam?«, hatte Seth gefragt, aber Justin hatte nur mit den Achseln gezuckt.
»Es ist nicht so einfach, in einem Comicbild so was wie Geschwindigkeit abzuschätzen, Alter.«
Und jetzt standen sie selbst an diesem Ort des Grauens und blickten auf Dutzende von Schlingmolchen, die zwischen ihnen und dem Ausgang lagen. Falls Justins Theorie nicht stimmte oder sie sich zu schnell bewegten, würden sie von Tausenden scharfer Zähne in Stücke gerissen werden.
Justin warf einen prüfenden Blick auf die Leuchtblase in seinen Händen. Offensichtlich fragte er sich, ob es das Risiko wert war, oder ob sie lieber zurückgehen und versuchen sollten, eine andere Route zu finden.
Sein Blick traf den von Seth und ohne ein Wort zu wechseln, wussten sie, dass sie beide dasselbe dachten: Wir müssen es tun.
Seth nickte unmerklich.
3
Sie kamen nur quälend langsam vorwärts.
Seth presste die Arme seitlich an den Körper und hielt sich kerzengerade. Bei jedem Schritt hob er den einen Fuß nur wenige Millimeter an, setzte ihn nach ein paar Zentimetern im Zeitlupentempo wieder ab und verlagerte anschließend vorsichtig sein Gewicht, bevor er das ganze Spiel mit dem anderen Fuß wiederholte.
Eigentlich ganz einfach. Aber es war auch einfach, eine schmale Planke entlangzubalancieren, ohne herunterzufallen, solange sie am Boden lag. Die Herausforderung war eine ganz andere, wenn sie fünfzig Meter in der Luft schwebte. In dem Raum, den sie durchqueren mussten, riskierten sie mit jeder falschen Bewegung, jedem noch so kleinen Schwanken und jedem zu hastig ausgeführten Schritt, bei lebendigem Leibe von diesen Ungeheuern verschlungen zu werden. Schon nach ein paar Metern klopfte Seths Herz so heftig, als hätte er einen Langstreckenlauf hinter sich.
Für Justin war es sogar noch schwierige r – er musste auch noch die Leuchtblase tragen. Seth machte ihm Zeichen, sie zu übernehmen, aber Justin schüttelte den Kopf. Er ließ sich nun mal nicht gern helfen. Die Blase war zwar federleicht, musste aber vollkommen still gehalten werden, und Seth sah ihm an, dass ihm allmählich die Arme schwer wurden. Er hätte niemals geglaubt, dass es so anstrengend sein könnte, sich im Schneckentempo vorwärtszubewegen. Jeder noch so winzige Schritt dauerte Minuten. Jeder kleine Knochenhaufen wurde zu einem unüberwindbaren Hindernis, das umständlich umgangen werden musste. Seth kämpfte mit aller Kraft gegen das Bedürfnis an, einfach loszurennen. Ihm war klar, dass er damit sein eigenes Todesurteil gefällt hätte.
Die Schlingmolche verlagerten träge ihr Gewicht, wälzten sich auf die Seite und gähnten. Sie schlugen rasselnd mit den Schwänzen und wandten den Kopf nach rechts und links. Währenddessen bewegten sich Justin und Seth weiter im Zeitlupentempo durch den Raum und näherten sich den gefährlichen Kreaturen.
Seths Gedanken liefen Amok. Was, wenn die Molche den schwachen Schein ihrer Leuchtblase irgendwie spüren konnten? Wenn sie genau wussten, dass sie durch ihre Höhle schlichen?
Vielleicht lauerten sie nur mit der grausamen Geduld von Raubtieren darauf, dass ihre Beute keine Chance mehr hatte, ihnen zu entkommen?
Wenn ich das hier überleb e … , sagte er sich immer wieder, wenn ich das hier überleb e
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