Malina
kühl, Antoinette ist uns losgeworden, sie muß in die Premiere von JEDERMANN . Ich höre immerzu eine Musik: Und träum hinaus in selge Weiten ..., ich bin in Venedig, ich denke an Wien, ich schaue über das Wasser und schaue ins Wasser, in die dunklen Geschichten, durch die ich treibe. Sind Ivan und ich eine dunkle Geschichte? Nein, er nicht, ich allein bin eine dunkle Geschichte. Es ist nur der Motor zu hören, es ist schön auf dem See, ich stehe auf und halte mich am Fensterrahmen fest, am anderen Ufer sehe ich schon eine schäbige Lichterkette, verloren und übernächtig, und meine Haare wehen im Wind.
... und kein Mensch außer ihr lebte, und sie hatte die Orientierung verloren ... es war, als wäre alles in Bewegung geraten, Wellen aus Weidengezweig, die Fluten nahmen ihren eigenen Lauf ... eine nie gekannte Unruhe war in ihr und legte sich schwer auf ihr Herz ...
Wenn der Fahrtwind nicht wäre, würde ich bitterlich weinen, auf dem halben Weg nach St. Gilgen, aber der Motor stottert, wird ganz still, Atti wirft den Anker, das ganze Ankergeschirr hinaus, er schreit mir etwas zu, und ich gehorche, das habe ich gelernt, daß man auf einem Boot gehorchen muß. Nur einer darf etwas sagen. Atti kann den Kanister mit dem Reservebenzin nicht finden, und ich denke, was wird wohl aus mir werden, die ganze Nacht auf dem Boot, in dieser Kälte? es sieht uns ja niemand, wir sind noch weit weg vom Ufer. Aber dann finden wir den Kanister doch, auch den Trichter. Atti steigt vorne aufs Boot, und ich halte die Laterne. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich wirklich noch an ein Ufer kommen möchte. Der Motor springt aber an, wir ziehen den Anker ein, fahren schweigend nach Hause, denn Atti weiß auch, daß wir die ganze Nacht auf dem Wasser hätten zubringen müssen. Zu Antoinette sagen wir nichts, wir schmuggeln Grüße ein von drüben, erfundene Grüße, ich habe den Namen der Leute vergessen. Ich vergesse immer mehr. Es fällt mir beim Abendessen auch nicht ein, was ich Erna Zanetti, die mit Antoinette in der Premiere war, ausrichten sollte oder wollte, ich versuche es mit Grüßen von Herrn Kopecky aus Wien. Erna ist erstaunt: Kopecky? Ich entschuldige mich, es muß ein Irrtum sein, jemand läßt sie grüßen aus Wien, vielleicht Martin Ranner. Das kann vorkommen, es kommt vor, sagt Erna nachsichtig. Ich denke noch während des ganzen Abendessens nach. Es dürfte aber nicht vorkommen, es war vielleicht etwas Wichtigeres, was nicht Grüße waren, vielleicht sollte ich Erna bitten um etwas, es war kein Stadtplan von Salzburg, kein Plan über die Seen und über das Salzkammergut, es war keine Frage nach einem Friseur oder einer Drogerie. Mein Gott, was hätte ich bloß Erna sagen oder fragen müssen! Ich will nichts von ihr, aber ich sollte sie etwas fragen. Während wir den Mokka in der großen Stube trinken, sehe ich Erna immer noch schuldbewußt an, weil es mir nie wieder einfallen wird. Es fällt mir nichts mehr ein zu den Menschen, die mich umgeben, ich vergesse, vergesse schon die Namen, die Grüße, die Fragen, die Mitteilungen, den Klatsch. Ich brauche keinen Wolfgangsee, ich brauche keine Erholung, ich ersticke, wenn es Abend wird und Konversation gibt, die Zustände kommen nicht wirklich wieder, nur andeutungsweise, ich ersticke vor Angst, ichhabe Angst vor einem Verlust, ich habe noch etwas zu verlieren, ich habe alles zu verlieren, es ist das einzig Wichtige, ich weiß, wie es heißt, und ich bin nicht fähig, hier herumzusitzen bei den Altenwyls, mit den anderen Leuten. Im Bett zu frühstücken ist angenehm, am See entlangzulaufen ist gesund, in St. Wolfgang Zeitungen und Zigaretten zu holen, ist gut und unnütz. Aber zu wissen, daß jeder dieser Tage mir einmal furchtbar fehlen wird, daß ich schreien werde vor Entsetzen, weil ich diese Tage so zubringe, während am Mondsee das Leben ist ... Es wird nie wieder gutzumachen sein.
Um Mitternacht gehe ich zurück in die große Stube und hole mir aus Attis Bibliothek DAS SEGLER ABC, VOM BUG ZUM HECK, LUV UND LEE . Ziemlich furchtbare Titel, zu Atti passen sie auch nicht. Ich habe noch ein Buch erwischt, KNOTEN, SPLEISSEN, TAKELN , es scheint das richtige für mich zu sein, ›das Buch setzt nichts voraus ... ist mit derselben systematischen Klarheit behandelt ... der leicht verständlich zur Fertigung der Zierknoten vom Hohenzollernknoten bis zur Kettenplatting anleitet‹. Ich lese in einem leichtverständlichen Lehrbuch für Anfänger. Die Schlaftablette habe ich
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