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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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Seiten, und dann noch eine Weile vor dem Tor der Ungargasse 6, die Straße hinaufschauend in Richtung Nummer 9, in meiner Passion, den Weg meiner Passionsgeschichte vor Augen, den ich wieder freiwillig gegangen bin, von seinem Haus zu meinem Haus. Unsere Fenster sind dunkel.
    Wien schweigt.

Zweites Kapitel
Der dritte Mann
    Malina soll nach allem fragen. Ich antworte aber, ungefragt: Der Ort ist diesmal nicht Wien. Es ist ein Ort, der heißt Überall und Nirgends. Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, lange her gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges nie gewesen sein. Für die Einheiten dieser Zeit, in die andere Zeiten einspringen, gibt es kein Maß, und es gibt kein Maß für die Unzeiten, in die, was niemals in der Zeit war, hineinspielt.
    Malina soll alles wissen. Aber ich bestimme: Es sind die Träume von heute nacht.
    Ein großes Fenster geht auf, größer als alle Fenster, die ich gesehen habe, aber nicht auf den Hof unsres Hauses in der Ungargasse, sondern auf ein düsteres Wolkenfeld. Unter den Wolken könnte ein See liegen. Ein Verdacht kommt mir, welcher See es sein könnte. Aber er ist jetzt nicht mehr zugefroren, es ist nicht mehr Freinacht, und die gefühlvollen Männergesangsvereine, die einmal auf dem Eis, mittenim See, standen, sind verschwunden. Und den See, der nicht zu sehen ist, säumen die vielen Friedhöfe. Keine Kreuze stehen darauf, aber über jedem Grab wölkt es sich stark und finster; die Gräber, die Tafeln mit den Inschriften sind kaum zu erkennen. Mein Vater steht neben mir und zieht seine Hand von meiner Schulter zurück, denn der Totengräber ist zu uns getreten. Mein Vater sieht befehlend den alten Mann an, der Totengräber wendet sich furchtsam, nach diesem Blick meines Vaters, zu mir. Er will reden, bewegt aber nur lange stumm die Lippen, und ich höre erst seinen letzten Satz:
    Das ist der Friedhof der ermordeten Töchter.
    Er hätte es mir nicht sagen dürfen, und ich weine bitterlich.
    Die Kammer ist groß und dunkel, nein, ein Saal ist es, mit schmutzigen Wänden, es könnte im Hohenstaufenschloß in Apulien sein. Denn es gibt keine Fenster und keine Türen. Mein Vater hat mich eingeschlossen, und ich will ihn fragen, was er vorhat mit mir, aber es fehlt mir wieder der Mut, ihn zu fragen, und ich schaue mich noch einmal um, denn eine Tür muß es geben, eine einzige Tür, damit ich ins Freie kann, aber ich begreife schon, da gibt es nichts, keine Öffnung, jetzt keine Öffnungen mehr, denn an allen sind schwarze Schläuche angebracht,angeklebt rings um die Mauern, wie riesige angesetzte Blutegel, die etwas aus den Wänden heraussaugen wollen. Warum habe ich die Schläuche nicht schon früher bemerkt, denn sie müssen von Anfang an da gewesen sein! Ich war so blind im Halbdunkel und bin die Wände entlanggetappt, um meinen Vater nicht aus den Augen zu verlieren, um die Tür zu finden mit ihm, aber nun finde ich ihn und sage: Die Tür, zeig mir die Tür. Mein Vater nimmt ruhig einen ersten Schlauch von der Wand ab, ich sehe ein rundes Loch, durch das es hereinbläst, und ich ducke mich, mein Vater geht weiter, nimmt einen Schlauch nach dem anderen ab, und eh ich schreien kann, atme ich schon das Gas ein, immer mehr Gas. Ich bin in der Gaskammer, das ist sie, die größte Gaskammer der Welt, und ich bin allein darin. Man wehrt sich nicht im Gas. Mein Vater ist verschwunden, er hat gewußt, wo die Türe ist und hat sie mir nicht gezeigt, und während ich sterbe, stirbt mein Wunsch, ihn noch einmal zu sehen und ihm das Eine zu sagen. Mein Vater, sage ich ihm, der nicht mehr da ist, ich hätte dich nicht verraten, ich hätte es niemand gesagt. Man wehrt sich hier nicht.
    Wenn es anfängt, ist die Welt schon durcheinandergekommen, und ich weiß, daß ich wahnsinnig bin. Die Elemente der Welt sind noch da, aber in einer so schaurigen Zusammensetzung, wie sie noch nie jemand gesehen hat. Autos rollen herum, von Farben triefend, Menschen tauchen auf, grinsende Larven, und wenn sie auf mich zukommen, fallen sie um, sind Strohpuppen, gebündelte Eisendrähte, Pappfiguren, und ich gehe weiter in dieser Welt, die nicht die Welt ist, mit geballten Fäusten, ausgestreckten Armen, um die Gegenstände, die Maschinen, abzuwehren, die auf mich auffahren und zerstieben, und wenn ich vor Angst nicht mehr weiterkann, mache ich die Augen zu, doch die Farben, leuchtend, knallig, rasend, bekleckern mich, mein

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