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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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mein Leben noch an. Ich kann meinen Vater nicht mehr ansehen, ich hänge mich an meine Mutter und fange zu schreien an, ja, es war das, er war es, es war Blutschande. Aber dann merke ich, daß nicht nur meine Mutter stumm bleibt und sich nicht rührt, sondern von Anfang an gar kein Ton in meiner Stimme ist, ich schreie, aber es hört mich ja niemand, es ist nichts zu hören, es ist nur mein Mund aufgerissen, er hat mir auch die Stimme genommen, ich kann das Wort nicht aussprechen, das ich ihm zuschreien will, und in dieser Anstrengung, bei diesem trockenen, offenen Mund, kommt es wieder, ich weiß,ich werde wahnsinnig, und um nicht wahnsinnig zu werden, spucke ich meinem Vater ins Gesicht, nur habe ich keinen Speichel mehr im Mund, es trifft ihn kaum ein Hauch aus meinem Mund. Mein Vater ist unberührbar. Er ist unrührbar. Meine Mutter fegt die zertretenen Blumen, das bißchen Unrat, weg, stumm, um das Haus rein zu halten. Wo, in dieser Stunde, wo ist meine Schwester? Ich habe meine Schwester im ganzen Haus nicht gesehen.
    Mein Vater nimmt mir die Schlüssel weg, er wirft meine Kleider aus dem Fenster auf die Straße, die ich aber gleich ans Rote Kreuz weitergebe, nachdem ich den Staub aus ihnen geschüttelt habe, denn ich muß noch einmal zurück ins Haus, ich habe die Spießgesellen hineingehen gesehen, und der erste zerschlägt die Teller und das Glas, aber ein paar Gläser hat mein Vater auf die Seite räumen lassen, und während ich zitternd in die Tür trete und ihm näher komme, nimmt er das erste und wirft es nach mir, dann eines vor mich auf den Boden, er wirft und wirft alle Gläser, er zielt so genau, nur wenige Splitter treffen mich, aber das Blut kommt in kleinen Rinnsalen von der Stirn, läuft vom Ohr weg, entspringt am Kinn, das Kleid verschmiert sich mit Blut, weil ein paar ganz feine Glasstücke durch den Stoff gedrungen sind von meinen Knien tropft esstiller, aber ich will etwas, ich muß es ihm sagen. Er sagt: Bleib nur, bleib, und schau zu! Ich verstehe nun nichts mehr, aber weiß, daß Anlaß zur Furcht ist, und dann ist die Befürchtung noch nicht das schlimmste gewesen, denn mein Vater ordnet an, daß meine Büchergestelle abgerissen werden sollen, ja, er sagt ›abreißen‹, und ich will mich vor die Bücher stellen, aber die Männer stellen sich grinsend davor, ich werfe mich vor ihnen auf den Boden und sage: Nur meine Bücher laßt in Ruhe, nur diese Bücher, macht mit mir, was ihr wollt, mach, was du willst, so wirf mich doch aus dem Fenster, so versuch es doch noch einmal, wie damals! Aber mein Vater tut, als wüßte er nichts mehr von dem Versuch, von damals, und er beginnt, fünf, sechs Bücher auf einmal zu nehmen, wie einen Packen Ziegelsteine, und er wirft sie, so daß sie auf den Kopf fallen, in einen alten Schrank. Die Gesellen mit frostigen klammen Fingern ziehen die Gestelle weg, es kracht alles nieder, die Totenmaske von Kleist flattert eine Weile vor mir und Hölderlins Bild, unter dem steht: dich Erde, lieb ich, trauerst du doch mit mir! und nur diese Bilder fange ich und drücke ich an mich, die kleinen Balzacbände wirbeln herum, die Aeneis bekommt einen Knick, die Gesellen geben Lukrez und Horaz einen Fußtritt, aber ein anderer fängt an, ohne zu wissen, was er in die Hand nimmt, wieder einiges ordentlich zu stapeln, in einer Ecke, mein Vater stößt den Mann in die Rippen (wo habe ich den Mann schon einmal gesehen, er hat mir in der Beatrixgasse ein Buch zerstört), er sagt freundschaftlich zu ihm: Was, das hätte dir wohl gepaßt, auch mit ihr, was? Und nun blinzelt mein Vater zu mir herüber, und ich weiß, was er meint, denn der Mann lächelt verlegen und sagt, er möchte schon, und mir zuliebe tut er auch so, als wolle er mit meinen Büchern wieder gut umgehen, aber ich reiße ihm voller Haß die französischen Bücher aus der Hand, denn Malina hat sie mir gegeben, und ich sage: Sie bekommen mich nicht! Und zu meinem Vater sage ich: Du hast uns doch immer alle verschachert. Aber mein Vater brüllt: Was, jetzt auf einmal willst du nicht, ich werde, ich werde!
    Die Männer verlassen das Haus, jeder hat ein Trinkgeld bekommen, sie schwenken ihre großen Taschentücher, rufen: Buchheil, und zu den Nachbarn und allen, die neugierig herumstehen, sagen sie: Wir haben ganze Arbeit geleistet. Jetzt sind mir die HOLZWEGE heruntergefallen, auch ECCE HOMO , und ich hocke betäubt und blutend inmitten der Bücher, es hat ja so kommen müssen, denn ich habe sie gestreichelt jeden

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