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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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die See, die Schwärme der zauberischsten Fische begegnen mir, und ich möchte mit ihnen ziehen, aber mein Vater ist schon hinter mir her, ich sehe ihn bald seitwärts, bald unter mir, bald über mir, ich muß versuchen, zu den Riffen zu kommen, denn meine Mutter hat sich in dem Korallenriff versteckt und starrt stumm und mahnend auf mich, denn sie weiß, was mit mir geschehen wird. Ich tauche tiefer und schreie unter Wasser: Nein! Und: Ich will nicht mehr! ich kann nicht mehr! Ich weiß, daß es wichtig ist, unter Wasser zu schreien, weil es auch die Haie vertreibt, so muß das Schreien auch meinen Vater vertreiben, der mich anfallen will, mich zerfleischen will, oder er will wieder mit mir schlafen, mich packen vor dem Riff, damit meine Mutter es sieht. Ich schreie: Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich mehr als mein Leben, und ich habe mir geschworen, dich zu töten! Bei meiner Mutter finde ich einen Platz, in ihrer verästelten, tausendgliedrigen, zunehmend wachsenden Tiefseestarre; ich hänge bang und furchtsam in ihrer Verästelung, ich hänge an ihr, aber mein Vater greift nach mir, er greift wieder nach mir, und ich war es also doch nicht, sondern er hat geschrien, es war seine Stimme, nicht die meine: Ich habe mir geschworen, dich zu töten! Aber ich habe geschrien: Ich hasse dich mehr als mein Leben!
    Malina ist nicht da, ich rücke mir das Kissen zurecht, ich finde das Glas mit dem Mineralwasser, Guessinger, ich trinke, am Verdursten, dieses Glas Wasser. Warum habe ich das gesagt, warum? Mehr als mein Leben. Ich habe ein gutes Leben, immer besser geworden durch Malina. Es ist ein trüber Morgen, aber doch schon Licht. Was für Sprüche mache ich da, warum schläft Malina jetzt? Gerade jetzt. Er soll mir meine Worte erklären. Ich hasse mein Leben nicht, warum kann ich also mehr hassen als mein Leben. Ich kann es nicht. Nur ohne Halt bin ich nachts. Ich stehe vorsichtig auf, damit es gut bleibt, mein Leben, ich stelle das Teewasser auf, ich muß Tee trinken in der Küche, frierend trotz des langen Nachthemds, mache ich mir diesen Tee, den ich brauche, denn wenn ich nichts mehr kann, ist Teekochen noch eine Beschäftigung. Wenn das Teewasser kocht, bin ich in keinem Atoll, ich wärmedie Kanne, zähle die Löffel mit dem Earl Grey hinein, gieße ihn auf, ich kann noch Tee trinken, kann das kochende Wasser noch dirigieren bis zu meiner Kanne. Ich möchte Malina nicht wecken, aber ich bleibe wach, bis es 7 Uhr früh wird, ich wecke ihn und richte ihm das Frühstück, Malina ist auch nicht gerade in der besten Verfassung, vielleicht ist er spät nach Hause gekommen, sein Ei ist zu hart geworden, aber er sagt nichts, ich murmle eine Entschuldigung, die Milch ist sauer, aber warum schon nach zwei Tagen? sie war doch im Eisschrank, Malina sieht auf, weil kleine weiße Klumpen im Tee entstehen, und ich schütte seine Schale aus, er wird heute den Tee ohne Milch trinken müssen. Es ist alles sauer geworden. Verzeih mir, sage ich. Was ist denn? fragt Malina. Geh jetzt, bitte geh, mach dich fertig, du kommst sonst zu spät, ich kann so früh morgens nicht reden.
    Ich habe den sibirischen Judenmantel an, wie alle anderen. Es ist tiefer Winter, es kommt immer mehr Schnee auf uns nieder, und unter dem Schnee stürzen meine Bücherregale ein, der Schnee begräbt sie langsam, während wir alle auf den Abtransport warten, auch die Fotografien, die auf dem Regal stehen, werden feucht, es sind die Bilder aller Menschen, die ich geliebt habe, und ich wische denSchnee ab, schüttle die Fotografien, aber es fällt weiter Schnee, meine Finger sind schon klamm, ich muß die Fotos vom Schnee begraben lassen. Ich verzweifle nur, weil mein Vater mit ansieht, was ich zuletzt noch versuche, denn er gehört nicht zu uns, ich will nicht, daß er meine Anstrengung sieht und errät, wer auf diesen Fotografien ist. Mein Vater, der auch einen Mantel anziehen möchte, obwohl er zu dick ist dafür, vergißt die Bilder, er bespricht sich mit jemand, zieht den Mantel wieder aus, um nach einem besseren zu suchen, aber dann ist zum Glück kein Mantel mehr da. Er sieht, daß ich abreise mit den anderen, und ich möchte noch einmal mit ihm reden, ihm endlich begreiflich machen, daß er nicht zu uns gehört, daß er kein Recht hat, ich sage: Ich hab keine Zeit mehr, ich habe nicht genug Zeit. Es ist einfach nicht mehr die Zeit dazu. Ringsum beschuldigen mich einige Leute, daß ich mich nicht solidarisch erkläre, ›solidarisch‹, seltsames

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