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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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aufhalten konnte, auch mein Vater nicht, aber da wird es so finster in der Zelle, daß die Botschaft von dem dritten Stein nicht laut wird. Der Stein ist nicht mehr zu sehen. Ich werde die letzte Botschaft nach meiner Befreiung erfahren.
    Mein Vater hat jetzt auch das Gesicht meiner Mutter. Es ist ein riesiges, verwaschenes, altes Gesicht, in dem aber doch seine Krokodilsaugen sind, der Mund ähnelt aber schon dem Mund einer alten Frau, und ich weiß nicht, ob er sie ist oder sie er, aber ich muß meinen Vater sprechen, es ist wahrscheinlich zum letzten Mal. Sire! Erst antwortet er nicht, dann greift er zum Telefon, dann diktiert er jemand, zwischendurch sagt er, es sei zu früh für mich, ich hätte noch kein Recht zu leben, und ich sage, noch immer mühsam und angestrengt: Aber es ist mir gleichgültig, du mußt wissen, es ist mir gleichgültig geworden, was du denkst. Wieder sind Leute da, Professor Kuhn und der Dozent Morokutti drängen sich zwischen mich und meinen Vater, Herr Kuhn bezeugt seine Devotion, und ich sage scharf: Bitte würden Sie mich zehn Minuten allein mit meinem Vater lassen? Auch alle meine Freunde sind aufgetaucht, die Wiener Bevölkerung steht erwartungsvoll, aber still am Straßenrand, einige deutsche Gruppen recken die Köpfe, ungeduldig, es geht ihnen immer alles zu langsam bei uns. Ich sage entschieden: Es muß möglich sein, ein einziges Mal zehn Minuten mit seiner eigenen Mutter über etwas Wichtiges sprechen zu können. Mein Vater sieht erstaunt auf, doch er versteht immer noch nicht. Manchmal bleibt mir die Stimme weg: Ich habe mir erlaubt, trotzdem zu leben. Manchmal kommt meine Stimme und ist füralle zu hören: Ich lebe, ich werde leben, ich nehme mir das Recht auf mein Leben.
    Mein Vater unterzeichnet ein Schriftstück, das sicher wieder mit meiner Entmündigung zu tun hat, doch die anderen fangen an, mich zur Kenntnis zu nehmen. Er setzt sich mit einem schwerfälligen, lustvollen Schnaufen zum Essen nieder, ich weiß, daß ich wieder nichts zu essen bekomme, und ich sehe ihn in seiner ganzen grenzenlosen Eigensucht, ich sehe den Teller mit der Frittatensuppe, dann wird ihm ein Teller mit dem panierten Schnitzel gereicht und eine Schüssel mit unserem Apfelkompott, ich gerate außer mir, ich nehme die großen gläsernen Aschenbecher aus allen Büros und die Briefbeschwerer wahr, die vor mir stehen, denn ich bin unbewaffnet gekommen, ich nehme den ersten schweren Gegenstand und werfe ihn genau in den Suppenteller, meine Mutter wischt sich überrascht das Gesicht mit der Serviette ab, ich nehme einen schweren Gegenstand und ziele auf den Teller mit dem Schnitzel, der Teller zerbricht und das Schnitzel fliegt meinem Vater ins Gesicht, er springt auf, er drängt die Leute weg, die sich zwischen uns geschoben haben, und bevor ich zum dritten Mal einen Gegenstand werfe, kommt er auf mich zu. Er ist jetzt bereit mich anzuhören. Ich bin ganz ruhig, ich fürchte mich nicht mehr, und ich sage ihm: Nur zeigen habe ich wollen, daß ich kann, was du kannst.Du sollst es nur wissen, mehr nicht. Obwohl ich kein drittes Mal geworfen habe, rinnt meinem Vater der klebrige Kompottsaft übers Gesicht. Er hat mir, auf einmal, nichts mehr zu sagen.
    Ich bin erwacht. Es regnet. Malina steht am offenen Fenster.

    Malina: Es war zum Ersticken bei dir. Geraucht hast du auch zuviel, ich habe dich zugedeckt, die Luft wird dir guttun. Wieviel hast du von allem verstanden?
    Ich: Beinahe alles. Einmal glaubte ich nichts mehr zu verstehen, meine Mutter hat mich ganz verwirrt. Warum ist mein Vater auch meine Mutter?
    Malina: Warum wohl? Wenn jemand alles ist für einen anderen, dann kann er viele Personen in einer Person sein.
    Ich: Willst du damit sagen, jemand war einmal alles für mich? Was für ein Irrtum! Das ist ja das Bitterste.
    Malina: Ja. Aber du wirst handeln, du wirst etwas tun müssen, du wirst alle Personen in einer Person vernichten müssen.
    Ich: Ich bin doch vernichtet worden.
    Malina: Ja. Auch das ist richtig.
    Ich: Wie leicht wird es, darüber zu reden, es wird schon viel leichter. Aber wie schwer ist es, damit zu leben.
    Malina: Darüber hat man nicht zu sprechen, man lebt eben damit.
    Mein Vater hat diesmal auch das Gesicht meiner Mutter, ich weiß nie genau, wann er mein Vater und wann er meine Mutter ist, dann verdichtet sich der Verdacht, und ich weiß, daß er keiner von beiden ist, sondern etwas Drittes, und so warte ich, zwischen den anderen Leuten, in höchster Erregung, unser

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