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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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entlanggingen, der zu schmal war, als dass Malka den Ästen und Zweigen der Bäume hätte ausweichen können, musste sie absteigen und eine Weile laufen, doch er nahm ihre Hand und sang und sie summte die Melodien mit und merkte kaum mehr, wie weh ihre Füße taten und wie tief die roten Schnüre in ihr Fleisch schnitten. Dann, nach einem ziemlich steilen Anstieg, verbreiterte sich der Weg und er nahm sie wieder auf die Schultern. Sie schaute aus ihrer Höhe auf ihre Mutter und ihre Schwester hinab. Beide gingen jetzt langsam und schwerfällig, mit gesenkten Köpfen, und schleppten sich nur mühsam vorwärts. Malka bückte sich, nahm das Ahornblatt von Wlados Kopf, drückte ihm einen Kuss auf die Haare und legte das Blatt wieder hin.
    Als in der Ferne ein ziemlich großes Holzhaus auftauchte, blieb Wlado stehen und hob Malka von seinen Schultern.
    »So«, sagte er, »jetzt muss ich wieder zurück.« Er sah, dass Malka Tränen in die Augen traten, und sprach rasch weiter: »Die Kühe müssen gemolken werden, sonst werden sie krank, du kannst deine Mutter fragen, die wird es dir erklären. Kühe, die nicht gemolken werden, bekommen entzündete Euter und dann haben wir im nächsten Winter keine Milch und keine Butter und müssen verhungern.«
    Die Mutter nahm Malka an die Hand. »Lass ihn«, sagte sie. »Er muss wirklich nach Hause.«
    Sie schauten Wlado nach. Er drehte sich noch einmal um und winkte und Malka war auf einmal so traurig, dass sie sich nicht mehr beherrschen konnte und zu weinen begann. »Ich will auch nach Hause. Ich will nicht nach Ungarn, bitte, Mama, gehen wir nach Hause.«
    »Das ist unmöglich«, sagte ihre Mutter. »Wir können nicht mehr nach Hause gehen.«
    »Nie mehr?«, fragte Malka erschrocken.
    Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, nie mehr.«
    »Und mein Zimmer und mein Bett und mein Mantel und meine Anziehsachen und meine Schulhefte?«
    Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Weg, vorbei.«
    »Und Chaja und Veronika und Fräulein Lemberger und Jankel und all die anderen?«
    »Sie sind zurückgeblieben, wir sind gegangen.«
    Da wurde Malka still. Schweigend lief sie neben ihrer Mutter und ihrer Schwester her, bis sie das Forsthaus erreichten.
    Den ganzen Abend sprach sie kein Wort. Sie schaute die Förstersfrau kaum an, als sie ihr einen Teller Suppe hinstellte und ein Stück Brot für sie abschnitt. Sie aß lustlos, nur weil ihre Mutter sie dazu zwang. Und als sie dann im Stall lagen, im Heu, drehte sie sich mit dem Rücken zu ihrer Mutter und Minna, grub sich tief ein und drückte Liesel fest an ihr Gesicht.
    Sie fühlte sich betrogen. Ihre Mutter hatte sie angelogen. Das war kein Ausflug nach Ungarn. Aber was es war, konnte sie nicht verstehen. Und warum Ungarn? In Ungarn kannte sie niemanden. Einmal war eine Frau mit ihrer Tochter bei ihnen gewesen, eine ganze Weile lang, und hatte gewartet, bis jemand sie über die Grenze bringen würde. Die Frau war Ungarin gewesen und ihre Tochter hatte nur Ungarisch gesprochen. Malka hatte kein Wort verstanden. Wie sollte sie in Ungarn leben, wenn sie die Sprache nicht kannte, wenn sie keine Freundin hatte, mit der sie spielen konnte, wenn sie kein Zimmer und kein Bett hatte? Wie sah es in Ungarn überhaupt aus?
    Mitten in der Nacht , es war jedenfalls noch stockdunkel, kam der Führer, der Hanna Mai und ihre Töchter durch den Wald über die Grenze bringen sollte, in den ungarisch besetzten Teil der Ukraine. Der Förster, der die ungebetenen jüdischen Gäste offenbar nicht schnell genug loswerden konnte, hatte ihn benachrichtigt. Es war ein Mann in den Fünfzigern, klein, drahtig, mit einem gelblichen Gesicht und gelblichen schlauen Augen. Wahrscheinlich ein Säufer mit einer Leberzirrhose, dachte Hanna. Er sah auf eine fast lächerliche Art genauso aus, wie sie sich einen Schmuggler vorstellte, hinterhältig und verschlagen, und er verlangte Geld. Hanna wollte das bisschen, was sie hatte, nicht hergeben und bot ihm ihre goldene Armbanduhr an, die sie von ihrem Mann zur Hochzeit bekommen hatte. Er betrachtete sie prüfend, dann steckte er sie ein und nickte missmutig.
    In der Nacht waren Wolken aufgezogen und da, wo der Mond stehen sollte, war nur ein etwas hellerer Fleck zu sehen. Es war so dunkel, dass Hanna den Führer kaum erkennen konnte, obwohl er nur ein paar Meter vorauslief, und Minna, die sich Frau Kowalskas Decke über die Schultern gehängt hatte, sah von hinten fremd und fast riesig aus.
    Hanna hatte die Dunkelheit für ein Glück

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