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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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gehalten, doch bald merkte sie, wie schwer ihr das Gehen fiel, wenn sie nicht sehen konnte, wohin sie trat. Sie rutschte in ihren leichten Schuhen, knickte um, stieß mit den Zehen gegen Steine, zerkratzte sich die Wade an einem Ast, den sie nicht bemerkt hatte. Sie zog die noch schlaftrunkene Malka hinter sich her, der es offenbar nicht besser ging, sie jammerte laut, bis der Führer stehen blieb und sie anfuhr, sie solle endlich den Mund halten, wenn sie nicht vom Grenzschutz oder von den ungarischen Polizisten geschnappt werden wollten. Danach gab die Kleine keinen Ton mehr von sich und sah in dem großen, grauen Pullover, den sie sich über Kleid und Jacke gezogen hatte, noch verlorener aus als vorher.
    Außer ihren Schritten, dem raschelnden Laub, dem Knacken der Zweige, auf die sie traten, war kaum etwas zu hören, nur der Wind, der durch die Wipfel strich, und ab und zu ein Nachtvogel. Hanna bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie die unheimlichen Rufe hörte, aber das konnte auch an der Kälte liegen, denn ihre Jacke war für die Nächte in den Bergen nicht warm genug. Bedauernd dachte sie an den warmen Mantel, der zu Hause in ihrem Schrank hing. Und vor allem an die Schuhe und die Wollstrümpfe. Ihre Füße waren so kalt, dass sie kaum ihre Zehen spürte.
    Im Wald löst sich Dunkelheit sehr langsam auf, viel langsamer als auf freiem Feld, und es dauerte eine ganze Weile, bis Hanna merkte, dass der Morgen kam. Sie konnte jetzt schon Baumstämme ausmachen, dunkles Gebüsch und graue Felsen. Als sie nach links in einen Weg abbogen, sah sie vorn, am Ende des Waldes, das helle Grau des Himmels. Dann hatten sie endlich den Wald hinter sich und vor ihnen lag ein Tal. Im Morgengrauen schwammen die Wälder wie dunkle Seen zwischen den helleren Feldern. Ein Dorf konnte Hanna nicht entdecken, auch keine einzelnen Häuser, nicht einmal eine Hütte. Es sah aus, als lebe weit und breit kein Mensch.
    »Wir sind in Ungarn«, sagte der Mann. Er hob die Hand und deutete hinunter ins Tal. »Hier sind die Kontrollen noch sehr streng und es ist gefährlich für Sie. Das wird erst besser, wenn Sie das Besatzungsgebiet verlassen haben und wirklich in Ungarn sind, aber auch dort müssen Sie aufpassen. Die ungarischen Gendarmen machen sich einen Sport daraus, polnische Juden zurückzuschicken, habe ich gehört. Aber wenn Sie dort hinuntergehen, das nächste Tal in westlicher Richtung hochsteigen und sich oben, auf dem Gipfel, nach Süden wenden, könnten Sie es schaffen.«
    Hanna versuchte sich seine Worte genau einzuprägen. Nach allem, was sie schon hinter sich hatten, empfand sie nun so etwas wie Zuversicht, jedenfalls waren sie nicht mehr in Polen, das hieß, sie waren dem unmittelbaren Zugriff der Deutschen entkommen. »Sie wollten uns doch zu einem Dorf bringen«, sagte sie.
    »Da unten, hinter dem Wäldchen, ist ein Dorf. Sie müssen sich links halten und dem Bach folgen.«
    Hanna überlegte. Am Anfang ihrer Flucht, in ihrem Bezirk, hatte sie sich noch an Leute wenden können, die sie kannte, ehemalige Patienten oder deren Angehörige, aber das war jetzt vorbei, hier wusste sie nicht mehr, wem sie trauen konnte. »Gibt es Juden im Dorf?«, fragte sie.
    Der Mann stieß einen verächtlichen Ton aus und spuckte auf den Boden. »Juden gibt es überall.« Er blickte Hanna an, sie wich seinem Blick nicht aus. »Einen Juden dort kenne ich«, sagte er schließlich widerwillig. »Schimon Bardosz, ein Zigarettenschmuggler. Er wohnt in dem letzten Haus rechts an der Hauptstraße. Es ist ein bisschen hinter Hecken versteckt, aber Sie können es nicht verfehlen.«
    Hanna wollte sich bei ihm bedanken und streckte die Hand aus, doch er übersah ihre Geste und drehte sich um.
    Eine ganze Weile standen sie da, Hanna und ihre Töchter, und schauten hinunter ins Tal. Es wurde heller, auch wenn der Himmel so bedeckt war, dass man von der Sonne nichts sehen konnte. Aus dem Wald unter ihnen traten drei Rehe auf eine Wiese.
    »Ungarische Rehe«, sagte Malka andächtig. Dann schaute sie Hanna an und fragte: »Gehen die eigentlich auch manchmal über die Grenze?«
    Es war Minna, die ihr antwortete, in einem immer noch streitlustigen Ton: »Ja, aber nicht heimlich.«
    »Wenn wir doch auch Rehe wären …«, sagte Malka und Minna fuhr sie an: »Ach, halt doch den Mund.« Hanna mischte sich nicht ein, sie hatte Angst vor einem neuen Wutausbruch Minnas.
    Die Rehe grasten friedlich. Offenbar war die Windrichtung so, dass sie ihre Witterung nicht

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