Malka Mai
aufnahmen. Was für ein schönes Bild, dachte Hanna. Schade, dass ich nie frühmorgens in den Wald gegangen bin. Am liebsten wäre sie hier sitzen geblieben. Es wäre der richtige Ort zum Nachdenken, nur dastehen, den Tieren zuschauen und beobachten, wie das Tal langsam hell wurde. Aber dafür hatten sie keine Zeit und außerdem war es zu kalt.
»Los, wir müssen weiter«, sagte sie.
Das Haus war zweistöckig , aus grün gestrichenem Holz mit gelben Streifen um die Fenster und gelben Blumen auf den Fensterläden. Es lag ein wenig zurückgesetzt und war durch Haselnussbüsche vor Blicken von der Straße geschützt. Die Nüsse, noch fest von der hellen Fruchthülle umschlossen, waren weißlich grün, es würde noch lange dauern, bis sie reif waren. Schade, dachte Malka und ging hinter ihrer Mutter und Minna die vier Stufen hinauf, die zur Haustür führten.
Die Mutter klopfte. Eine rundliche, nicht mehr ganz junge Frau mit straff zurückgekämmten Haaren öffnete die Tür nur halb und fast sah es aus, als wolle sie sie sofort wieder zuschlagen. »Wir möchten zu Schimon Bardosz«, sagte die Mutter schnell. »Man hat uns gesagt, dass er hier wohnt.«
Die Frau ließ ihre Blicke über den Hof schweifen, über die Hecke zur Straße, dann machte sie die Tür weit auf und zog die Fremden in eine dämmrige Küche. »Mein Mann ist nicht da«, sagte sie in holprigem Polnisch, mit dem singenden Tonfall der Ungarn. »Er ist unterwegs, in Geschäften. Aber setzen Sie sich doch.«
Während die Mutter erzählte, woher sie kamen und wie sie es geschafft hatten, über die Grenze zu gelangen, kochte die Frau auf einem Petroleumkocher Wasser und goss Tee auf, deckte den Tisch und stellte Brot, Butter und frischen Quark vor sie hin. »Ist das schön, mal wieder an einem richtig sauberen Tisch zu sitzen«, sagte die Mutter.
Malka trank den süßen Tee und aß Brot und Käse, bis sie satt war, richtig satt, so ähnlich wie zu Hause.
»Und wo ist Ihr Mann?«, fragte Frau Bardosz.
Die Mutter zögerte, doch Minna sagte schnell: »Unser Vater ist in Erez-Israel 7) , schon seit fünf Jahren. Vielleicht schaffen wir es ja auch bis dorthin.«
7) Erez-Israel: Für die aus Palästina vertriebenen und in der ganzen Welt verstreuten Juden war Erez-Israel jahrhundertelang die Bezeichnung für das verlorene Land der Väter. Vor der Gründung des modernen Staates Israel 1948 war Erez-Israel der unter allen Juden verbreitete Name für Palästina.
Malka warf ihrer Schwester einen erstaunten Blick zu. Ihre Mutter, die Tasse in den aufgestützten Händen, nippte ab und zu und hielt die Augen gesenkt. Mama hat kein Wort davon gesagt, dass wir zu Papa wollen, dachte Malka, sie hat nur von Ungarn gesprochen.
Frau Bardosz seufzte. »Es ist weit nach Erez-Israel, sehr weit. Gott möge euch schützen und euch helfen in dieser schweren Zeit.« Sie goss noch einmal Tee nach und schob Malka die Zuckerdose hin. Malka nahm drei Löffelchen Zucker, hätte vielleicht noch mehr genommen, wenn ihr die Mutter nicht die Hand auf den Arm gelegt hätte. Malka senkte beschämt den Kopf, wenn man zu Gast war, benahm man sich nicht gierig, das gehörte sich nicht.
»Unser Vater ist aus Danzig«, erzählte Minna. »Er hat nur selten ein Visum für Polen bekommen, deswegen haben wir ihn nicht so oft gesehen. Aber er hat aus Erez-Israel geschrieben, dass wir kommen sollen, er lebt in einem Kibbuz 8) .«
8) Kibbuz: landwirtschaftliche Siedlung in Israel, geprägt von gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Eigentum der Mitglieder.
Minna redete und redete und erzählte vom letzten Besuch ihres Vaters, an den sich Malka überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Für sie war ihr Vater der Mann auf den Fotos, die ihre Mutter ihr manchmal zeigte und die jetzt alle in dem Haus in Lawoczne zurückgeblieben waren. Und von Erez-Israel wusste sie auch nichts, nur dass das Land weit weg war, sehr weit weg, ungefähr da, wo die Sonne aufging, und dass ihr Vater dort lebte. Sie stellte ihre Teetasse zurück, rutschte vom Stuhl und schaute sich neugierig um.
Die Küche war nicht sehr hell. Das Fenster oben an der Wand, durch das schwaches Licht hereinfiel, war sehr klein. Wie in den meisten polnischen Häusern auf der anderen Seite der Grenze auch, wurde fast die Hälfte der Küche von einem gemauerten Ofen eingenommen, der aber jetzt, Ende September, noch nicht brannte. Unten war die Klappe für das Feuer, in der Mitte befanden sich die Platten zum Kochen und oben auf dem Ofen war noch
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