Malka Mai
bei fremden Leuten war, allein und verängstigt.
Fast kamen ihr die Tränen vor Mitleid, doch dann schlug das Gefühl um und wurde zu Wut. Hanna konnte sich nicht mehr beherrschen und sagte in einem schärferen Ton, als sie es gewollt hatte: »Die Ungarn fühlen sich sicher unter Horthy. Aber die Deutschen werden sie nicht verschonen. Horthy ist kein Schutz, jetzt brauchen die Deutschen ihn noch, so lange werden sie Ungarn in Ruhe lassen und die ungarischen Juden sind sicher. Aber das wird ein Ende haben. Das Unheil trifft uns alle. Kein Jude, auf den Hitler sich Zugriff verschaffen kann, ist sicher. Es ist eine Dummheit, so etwas zu glauben.«
Ihre Fluchtkameraden widersprachen, besonders die Herren Wajs und Frischman, und Hanna war sich nicht sicher, ob sie es aus Überzeugung oder aus Höflichkeit taten, spürte aber ihre tadelnden Blicke. Sogar Minna stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. Hanna senkte beschämt den Kopf und ärgerte sich, dass sie den Mund nicht gehalten hatte. Sie war ihren liebenswürdigen Gastgebern nicht weniger dankbar als die anderen und wünschte ihnen alles Gute, sie sollten gesund und glücklich leben bis hundertzwanzig. Aber sie sollten sich, verdammt noch mal, nicht so sicher fühlen.
Im Ghetto war es anders , ganz anders als in der Hütte am Waldrand. Ein paar Tage lang lief Malka wie betäubt herum. Die Familie Goldfaden, zu der Zygmunt sie gebracht hatte, hatte sie zwar nach einigem Widerstreben aufgenommen und eine dünne Matratze für sie im Flur auf den Boden gelegt, als Schlafplatz, und sie bekam auch etwas zu essen, aber ansonsten kümmerte sich niemand um sie. Hätte sie Liesel nicht gehabt, wäre sie ganz allein gewesen.
Frau Goldfaden arbeitete in einer Näherei im Ghetto. Was der Mann tat, wusste Malka nicht, aber auch er war tagsüber nicht da. Die Kinder, zwei große Mädchen und ein Junge, der nicht viel älter war als sie, sprachen kaum mit ihr, höchstens um sie mit einem Eimer zum Brunnen zu schicken, um Wasser zu holen, weil die Wasserleitung im Haus nicht funktionierte. Das Haus am Rand des Ghettos war klein und ärmlich, genauso klein und ärmlich wie die anderen Häuser der ungeteerten Gasse. Auf der Hauptstraße des Ghettos, die zum Platz mit dem Brunnen führte, gab es größere Häuser, mehrstöckige Häuser mit ein oder zwei Höfen, um die wieder andere Häuser standen, und überall waren Menschen, überall wurde geredet, geschimpft, geschrien, geweint und manchmal gelacht.
Malka versuchte zu verstehen, was all diese Leute taten, wie sie lebten, aber das Ghetto blieb ihr fremd, so fremd wie die Familie Goldfaden. Vielleicht lag das auch daran, dass die meisten Leute hier Jiddisch sprachen, die Frauen am Brunnen, die Kinder auf den Straßen, die Männer, die irgendetwas verkauften, die Jungen, die Zigaretten anboten, die Bejgelverkäuferinnen 11) .
11) Bejgel, pl. Bejgelech (jidd.): Hefekringel
Das Essen, das Malka bekam, schmeckte schlecht und war zu wenig, sie war ständig hungrig, aber die Goldfadens selbst hatten, außer dem Vater, auch nicht mehr auf ihren Tellern. Voller Sehnsucht dachte Malka an die Kartoffeln und das Kraut, das sie bei Teresa gegessen hatte, an die Ziegenmilch, an das Brot, das Teresa einmal im Monat selbst backte und das sie, wenn es schon hart geworden war, manchmal auf der Herdplatte geröstet und mit Knoblauch eingerieben hatte, und an den Haferbrei, der den Magen so voll und warm machte.
Überhaupt war es viel leichter, an Teresa zu denken als an ihre Mutter, denn Teresa wusste, dass sie hier im Ghetto war, bei der Familie Goldfaden. Aber wie sollte ihre Mutter sie finden? Sie durfte nicht an ihre Mutter denken. Ein Ziehen im Kopf und im Bauch sagte ihr, dass sie Wörter wie »Mama« und »Mutter« besser vermied, weil ihre Gedanken dann verrückt spielten. Wenn sie, aus Versehen, »Mama« oder »Mutter« dachte, trieb es ihr die Tränen in die Augen und sie fühlte sich hilflos und wehrlos. Das durfte nicht passieren, denn es war wichtig, dass sie stark war und immer und in jeder Situation überlegen konnte, was sie tat.
Wenn jemand sie, was selten genug vorkam, fragte, wer sie war, sagte sie nicht mehr: Meine Mutter ist Frau Doktor Mai, sondern: Ich bin die Tochter von Frau Doktor Mai. »Tochter« war ein unverfängliches Wort, man konnte es denken, konnte es sogar aussprechen, ohne dass einem die Luft wegblieb. Frau Doktor Mai war diese fremde Person, in deren Haus sie gelebt hatte, früher, vor langer Zeit. Die Frau,
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