Malka Mai
Geduld und Mühe säbelte sie die Kappen der Schuhe ab und wickelte sich die Lappen von den Füßen. Ihre Wunden waren geheilt, der Schorf war von den Narben abgefallen, aber die neue Haut, die darunter hervorgekommen war, sah immer noch hell und empfindlich aus. Als sie die Socken auszog, die ihr Ciotka gegeben hatte, musste sie wieder gegen die Tränen ankämpfen. Sie schlüpfte in die Stiefel. Sie waren braun, braun wie Erde, und ihre Zehen wuchsen daraus hervor wie kleine Champignons. Sie lachte. Leider waren die Stiefel so eng, dass sie ihr nur passten, wenn sie keine Socken anhatte, deshalb steckte sie die Socken und die Fußlappen in die Manteltasche und ging in die nächste Wohnung.
Abends war sie so voll gestopft, dass ihr schlecht war. Sie ging zurück zum Haus der Goldfadens, legte sich auf die Matratze und überlegte, was sie am nächsten Tag alles aus den Lebensmitteln machen könnte, die sie gesehen hatte. Eine Mischung aus Haferflocken und Marmelade schmeckte bestimmt köstlich. In einer Küche an der Hauptstraße, im ersten Stock, stand noch ein halb volles Glas Erdbeermarmelade, das sie nicht mehr runtergebracht hatte.
Ein ganzes Ghetto voller leerer Wohnungen. Und alles war für sie, sie konnte nehmen, was sie wollte. In Gedanken ging sie von einer Küche in die andere, von einem Zimmer ins andere. Und obwohl ihr ein bisschen übel war, lachte sie glücklich.
Das Glück dauerte nicht lange, schon am nächsten Tag war es vorbei. Malka stand gerade in der Küche mit der Erdbeermarmelade, als sie Lärm von draußen hörte und schnell aus der Wohnung lief. Das Ghetto war auf einmal wieder voll. Von überall her kamen Leute, mit und ohne Gepäck, Frauen, Männer, Kinder, alte Leute, alle strömten in die verschiedenen Häuser. Verblüfft schaute Malka zu, wie sich von einer Stunde zur anderen alles veränderte. Und dann erschrak sie so sehr, dass ihr schlecht wurde. Was war mit dem Haus der Goldfadens? Mit ihrem Haus? Mit ihrer Matratze?
Das Haus war besetzt. Mindestens zehn Menschen drängten sich in der Küche und im Schlafzimmer zusammen und versuchten, ihre Sachen einzuordnen. Malka stand an der Küchentür, schaute ihnen zu und wagte nicht, etwas zu sagen. Sie sah aber, dass ihre Matratze nicht mehr unter dem Tisch lag.
»Hier ist alles voll«, sagte ein Mann, als er sie endlich bemerkte. »Such dir einen anderen Platz. Du siehst doch, dass wir mehr als voll sind.«
Malka drehte sich um und ging hinaus. Sie war traurig und bedrückt. Wenn ich doch zu Hause geblieben wäre, dachte sie, dann wären sie vielleicht nicht reingekommen. Wenn die Goldfadens doch noch da wären, wenn es keine Aktion gegeben hätte, wenn Ciotka sie bei sich behalten hätte, wenn die Deutschen nicht zu Zygmunt gesagt hätten, er müsse sie wegbringen … So viele Wenns. Und dann fiel ihr das schlimmste Wenn ein. Wenn sie vorhin, als sie den Lärm gehört hatte, doch nur daran gedacht hätte, die Marmelade einzustecken! Ein halb volles Glas Erdbeermarmelade!
Malka setzte sich neben den Brunnen und schaute zu, wie immer mehr Frauen und Kinder mit Eimern kamen, um Wasser zu holen, neue Frauen und neue Kinder, die ihr fremd waren, obwohl ihr die früheren auch nicht vertraut gewesen waren. Aber sie hatte wenigstens ihre Gesichter erkannt.
Langsam wurde es dunkel, die Straßen leerten sich und niemand hatte Malka aufgefordert mitzukommen. Niemand hatte gesagt: Komm, Kind, bei uns ist noch ein bisschen Platz frei. Und niemand hatte gefragt: Hast du Hunger?
Sie hatte Hunger. Sie hatte großen Hunger. Aber am meisten bedrückte es sie, dass es Nacht wurde und sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Da fiel ihr der Kohlenkeller ein, in dem sie sich während der Aktion versteckt hatte, der Kohlenkeller in einem Haus auf der Hauptstraße. Weil keine Straßenlaternen brannten, musste sie auf Knien die Hauswände entlangrutschen, um nach den Kellerfenstern tasten zu können, und es dauerte lange, bis sie die kleine, scheibenlose Öffnung fand. Sie schob sich rückwärts hinein, suchte mit den Füßen nach der Rutsche, glitt hinunter und vergrub sich in der Ecke mit den Säcken. Sie war allein. Noch nie war sie so allein gewesen. Allein in einem kleinen Verschlag mitten in einer fremden, feindlichen Welt.
Liesel, dachte sie, wenn nur Liesel bei mir wäre. Aber Liesel hatte sie verloren. Malka drückte sich fester in ihre Ecke. Vielleicht war Liesel ja weggelaufen, weil sie Sehnsucht nach Veronika hatte. Vielleicht lief sie
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