Malka Mai
war schmutzig und die Haare hingen ihr strähnig um den Kopf, ihr Gesicht war verquollen, die Lippen aufgesprungen. Hanna hatte Angst, mit Minna zu sehr aufzufallen.
Hanna ging die Gleise entlang zum Bahnhof, denn von dort aus kannte sie den Weg zu Doktor Rosner. Sie hatte ihn in den letzten Jahren zweimal besucht, er war es nämlich gewesen, der ihr, als es in Polen nur noch wenige Medikamente gab, hin und wieder etwas geschickt hatte. Auf der Straße waren viele Menschen, alles sah so normal aus, so gewöhnlich, als gäbe es keine Aktionen und Deportationen.
Ab und zu aber begegnete Hanna einem Mann oder einer Frau, von denen sie sicher annahm, dass sie ebenfalls Flüchtlinge waren. Das lag nicht nur an ihrer heruntergekommenen Kleidung, es gab auch arme Ungarn in Munkatsch, sondern an ihrer geduckten Haltung, den hastigen Bewegungen und den schnellen Blicken, mit denen sie ihre Umgebung ständig zu beobachten schienen. Hanna zwang sich zu einem aufrechten, ruhigen Gang und konzentrierte sich darauf, geradeaus zu schauen, nur geradeaus. Eine Frau, die ein Ziel hatte und es ohne Angst und Bedenken ansteuerte. Eine Frau, die ihre kleine Tochter von Bekannten abholen wollte, wo sie für ein paar Stunden zu Besuch gewesen war.
Frau Rosner, die sie als freundliche Frau und liebenswürdige Gastgeberin in Erinnerung hatte, machte ihr die Tür auf und fuhr erschrocken zurück. »Ich bin es«, sagte Hanna leise. »Doktor Mai, aus Lawoczne.«
Frau Rosner schüttelte den Kopf und wollte die Tür sofort wieder schließen. Natürlich hatte Hanna gewusst, dass sie um nichts besser aussah als ihre Tochter Minna, dennoch hätte sie eine solche Reaktion nicht erwartet. Wut packte sie, Wut auf diese Leute, die so ungestört ihr normales Leben weiterleben wollten. Sie schob einen Fuß in die Tür und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen.
Frau Rosner fuhr erschrocken zurück, machte eine hilflose Handbewegung und führte sie ins Wohnzimmer, wo ihr Mann am Tisch saß und Kaffee trank. Auf einem Teller lagen Gebäckstücke, groß, fettglänzend und mit Zuckerguss überzogen.
»Wo ist meine Tochter?«, fragte Hanna. »Hat Chaim Kopolowici meine Tochter zu ihnen gebracht?«
»Welcher Chaim Kopolowici? Welche Tochter?«, fragte Doktor Rosner. Hanna sah genau, dass sein Gesicht nicht nur Erstaunen ausdrückte, sondern auch Abscheu und Angst. Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen, sie wollte es auch nicht. Schnell erzählte sie, wie sie Malka zurückgelassen hatte. Sie sprach hastig, überstürzt und musste ihren Bericht immer wieder unterbrechen, weil sie so enttäuscht war, dass sie das Weinen nicht zurückhalten konnte.
Die Rosners schüttelten jedoch nur die Köpfe. Nein, sie hatten nichts von einem Chaim Kopolowici gehört, auch nichts von ihrer Tochter Malka. Nein, sie würden in diesen Zeiten auch kein Kind aufnehmen, sie waren froh, dass ihre eigenen Kinder schon selbstständig waren. Die Frau Kollegin solle sich ja nicht einbilden, dass in Ungarn alles in Ordnung sei, die Pfeilkreuzler würden immer mehr Macht gewinnen, besonders hier in Munkatsch, man müsse vorsichtig sein und dürfe nicht auffallen. Nein, sie könnten nichts für sie tun, sosehr sie das auch bedauerten. Doktor Rosner holte aus seiner Praxis ein Röhrchen mit Beruhigungstabletten, drückte es Hanna in die Hand und sagte: »Sie sollten sich nicht so aufregen, Frau Kollegin, damit ändern Sie doch nichts.« Das war alles. Dann stand sie wieder auf der Straße.
Nun blieb ihr nur noch die Adresse von Kopolowicis Schwester. Sie fragte sich zum Judenviertel durch, inzwischen war es ihr egal, wie sie aussah und was die Leute von ihr dachten. Doch auch Kopolowicis Schwester wusste nichts von Malka, sie hatte seit Wochen keine Post mehr von ihrem Bruder bekommen und gesehen hatte sie ihn das letzte Mal an Pessach, als sie und ihr Mann mit den Kindern für die Feiertage nach Pilipiec gefahren waren.
Mit letzter Kraft schleppte sich Hanna zurück zur Lagerhalle. Dort setzte sie sich auf den Boden und weinte.
Dezember
Malka saß am Brunnen , als eine Frau an ihr vorbeiging, eine Frau, die aussah wie Teresa. Es war nicht Teresa, natürlich nicht, was hätte Teresa auch im Ghetto verloren? Aber sie sah Teresa ähnlich. Sie trug eine blaue Kappe, unter der blonde Haare hervorschauten. In der einen Hand hatte sie eine Tasche, an der anderen führte sie ein Kind, ein kleines Mädchen. Die Frau ging an Malka vorbei, ohne sie anzusehen, das kleine Mädchen
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