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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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kannte ihn, das heißt, sie hatte ihn oft gesehen, er gehörte zu der Gruppe um Micki und David, war aber meistens allein im Ghetto herumgelaufen, in einem viel zu großen Mantel und viel zu großen Stiefeln, so dass er immer nur schlurfend vorwärts gekommen war. Er lag seltsam verrenkt da, die abgeknickten Beine auf der Straße, die wie sehnsüchtig ausgebreiteten Arme auf dem Bürgersteig, das Gesicht zum Himmel. Seine Augen standen offen, Malka sah erst jetzt, dass sie rötlich braun waren, mit langen Wimpern. Der Mund war wie zu einem Schrei aufgerissen, aber kein Schrei kam heraus.
    Malka stand da und starrte den Jungen an. Die Toten, die sie in ihrem früheren Leben gesehen hatte, waren immer alt gewesen. Und schön aufgebahrt, mit Blumen und mit Händen, die über den schwarzen Kleidern gefaltet waren. Wie Zofias Großmutter, zu deren Beerdigung Zofia sie mitgenommen hatte, zusammen mit Minna.
    Sie sah das Bild vor sich, das sie damals erschreckt hatte und ihr jetzt, in der Erinnerung, friedlich und ruhig vorkam. Die alte Frau lag in einem Sarg, umgeben von Blumen und mit einem Kreuz zwischen den gefalteten Händen. Ihr Kinn war mit einem weißen Tuch hochgebunden, ihr Gesicht mit den eingefallenen Wangen sah fast aus, als würde sie lächeln, als würde es ihr gefallen, tot zu sein. Sie war ja auch von selbst gestorben und dieser Junge nicht.
    Malka merkte, dass sie immerzu den karierten Schal anschaute, den der Junge um den Hals trug. Der Schal sah so warm aus, dass sie dachte: Der Junge ist nicht erfroren, nicht mit so einem Schal, es muss etwas anderes gewesen sein. Aber es war ihr egal, an was er gestorben war, sein Gesicht wurde zu einem fahlen Fleck über dem Schal, die Arme sahen nicht mehr aus, als habe er sie sehnsüchtig ausgebreitet, sondern schienen zu sagen: Von mir aus, nimm dir den Schal, ich brauche ihn nicht mehr.
    Trotzdem zögerte sie. Sie wusste nicht, wie sich ein Toter anfühlte. Sie hatte schon tote Hasen und tote Vögel angefasst, aber da waren Federn oder Fell über der Haut gewesen. Der Junge hatte den Schal so fest um den Hals gebunden, dass sie, um den Knoten zu lösen, ihn anfassen müsste. Sie schaute ihm wieder in die rötlich braunen Augen und dachte: Du hättest den Schal auch aufbinden können, bevor du gestorben bist, du weißt doch, wie es hier ist. Und plötzlich verstand sie, dass der Mantel und die Stiefel des Jungen so groß gewesen waren, weil er sie einem Toten abgenommen hatte, einem erwachsenen Toten, einem alten Toten. Weil Tote noch alles haben, Mäntel und Stiefel und Schals, aber nichts mehr brauchen, deshalb kann man ihnen auch alles wegnehmen. Siehst du, sagte sie zu dem Jungen, du hast es gewusst. Warum hast du den Schal nicht aufgebunden, damit ich ihn einfach nehmen kann?
    Sie hatte zu lange gezögert, denn auf einmal war sie nicht mehr allein, Leute standen um sie herum und betrachteten den Jungen. Eine Frau sagte: »Höchstens zehn ist er geworden. Was für schlimme Zeiten sind das.« Ein Mann sagte böse: »Was heißt da schlimme Zeiten? Nicht die Zeiten sind schuld, es sind die verdammten Deutschen.« Dann bückte er sich, knotete den Schal auf und zerrte ihn unter dem Kopf des Jungen hervor. Der Kopf bewegte sich und fiel zur Seite, der offene Mund berührte nun den Straßendreck. Enttäuscht ging Malka weg. Wieder einmal war sie zu dumm gewesen.
    Später, als sie am Gartenzaun saß, zerdrückte sie eine Schnecke mit einem Stein. Langsam und ohne etwas zu fühlen. Das Haus zerbrach knackend und knisternd, die Schnecke krümmte sich und hörte erst auf, sich zu bewegen, als Malka sie vollkommen zerquetscht hatte.
    Hanna war ununterbrochen unterwegs . Sie suchte alle möglichen Hilfsorganisationen auf, sie wurde von einem zum anderen geschickt, aber niemand konnte ihr sagen, wie sie Malka wiederbekommen könnte. Sie rief auch jeden Tag bei Doktor Rosner an, sie hatte beschlossen, ihm so lange auf die Nerven zu gehen, bis er sich mit Kopolowici in Verbindung setzen würde.
    Am dritten Tag, es war schon spät am Abend, landete sie bei einem gewissen Nathan Hecht, von dem man ihr gesagt hatte, er sei sehr einflussreich und habe Beziehungen bis zu der Regierung. Nathan Hecht führte sie in sein Arbeitszimmer. Sie saß auf einem Ledersofa. Den Rock hatte sie, bevor sie sich setzte, hochgeschlagen, damit er keine Knautschfalten bekam, jetzt spürte sie das Leder unangenehm kühl an dem nackten Streifen Haut an ihren Oberschenkeln. Die Strümpfe, die sie von

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