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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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wurde angezogen von dem Geruch, festgehalten, gefesselt, auf einmal gab es nichts anderes mehr auf der Welt, alle Wünsche und Sehnsüchte konzentrierten sich auf diese duftenden Kastanien.
    Sie kauerte sich vor der Frau auf den Boden und streckte die Hand aus. Die Frau schüttelte den Kopf, aber Malka gab nicht auf. Sie atmete mit offenem Mund tief ein, als könne der Geruch allein sie schon satt machen, er drang in sie ein, floss mit ihrem Blut in die Beine und bis in die Fingerspitzen. Sie konnte nichts mehr denken, konnte die Frau nicht anschauen, sie konnte nur noch riechen. Ihre ausgestreckte Hand begann zu zittern, der Platz um sie herum verschwamm.
    Da spürte sie etwas Heißes auf ihrer Handfläche und riss die Augen auf. Drei Kastanien, die Frau hatte ihr drei Kastanien gegeben. Geschenkt. Malka schloss die Finger um diesen Schatz und stand auf, um sich einen Platz zu suchen, wo sie sie ungestört essen konnte. Spucke sammelte sich in ihrem Mund, sie schluckte, schluckte noch einmal. Die Kastanien waren so heiß, dass sie sie in die andere Hand nehmen musste. Die Frau lächelte, Malka lächelte zurück.
    Dies war der Kastanien-Tag.
    Sie befanden sich in einem Haus , das der jüdischen Gemeinde gehörte und in dem sich mehrere jüdische Organisationen befanden. Die Flüchtlinge waren auf dem Dachboden untergebracht, aber man sagte ihnen gleich, dass sie nicht lange hier bleiben konnten, man erwarte neue Flüchtlinge, doch man werde sich bemühen, falsche Papiere für sie zu bekommen. Hanna wollte auch nicht hier bleiben, die hygienischen Bedingungen waren kaum besser als auf der Flucht, das Essen war furchtbar und die Enge bedrückend. Aber bevor sie irgendwelche Pläne machte, musste sie Malka zurückbekommen. Sie ging von einem Stockwerk zum anderen, von einem Büro zum anderen, erzählte von Malka und bat die Leute, ihr die kleine Tochter zurückzubringen. Bis einer sagte: »Sie sind nicht die einzige Mutter, die ihr Kind verloren hat, hören Sie endlich auf, wir haben noch andere Sorgen.« Da ging sie wieder hinauf zu ihrer schmuddeligen Matratze und legte sich hin.
    Langsam fand Hanna ihre Selbstbeherrschung wieder. Sie dachte nur manchmal, mit Unbehagen, an die Fahrt im Lastwagen zurück. Wenn Minna sie anschaute, wich sie ihrem Blick aus. Aber das geschah ohnehin nicht oft, Minna war bedrückt und traurig, weil sich die Gruppe auflöste und sie sich von Ruben trennen musste. Die Familien Frischman und Kohen waren die ersten, die weiterzogen, Richtung Istanbul, wo Herr Frischman Geschäftsfreunde hatte. Dort würde er vielleicht neu anfangen können, sagte er.
    Herr und Frau Wajs hatten Verwandte in Ungarn, in Szeged, die würden in den nächsten Tagen kommen und sie abholen. Ruben sagte, er wolle hier bleiben, aber Frau Wajs bestand darauf, ihn mitzunehmen. »Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich aufzupassen wie auf einen Sohn«, sagte sie. »Willst du, dass ich an ihr schuldig werde?«
    Hanna sah, wie Ruben zu Minna hinüberschaute, sie sah, wie ihre Tochter den Kopf senkte. Kinder, dachte sie, haben die beiden wirklich geglaubt, sie könnten einfach zusammenbleiben, hier, unter diesen Umständen? Aber sie fühlte sich zu leer, zu ausgehöhlt, um ihre Tochter zu trösten. Auch als der Abschied tatsächlich kam, konnte sie nichts sagen, obwohl sie bedrückt und traurig war. Auch wenn sie früher, in Lawoczne, kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten, fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass sie diese Menschen vermutlich nie mehr sehen würden. Minna weinte. Ruben weinte auch.
    Als Malka morgens zum Brunnen ging, sah sie ein totes Kind auf der Straße liegen, mit dem Unterkörper in der Gosse und mit dem Oberkörper über dem Bürgersteig. Es fiel ihr schon von weitem auf und irgendwie war ihr sofort klar, was da wie ein weggeworfenes Kleiderbündel aussah. Natürlich hatte sie im Ghetto schon Tote gesehen, sie lagen plötzlich irgendwo auf der Straße und Malka machte dann einen Umweg oder ging mit abgewandtem Gesicht vorbei. Aber diesmal war es anders, diesmal sah sie an der Größe, dass es ein Kind war. Sie wollte das tote Kind nicht sehen, trotzdem lief sie auf das Bündel zu, wie von einem unsichtbaren Seil gezogen. Sie wusste nicht, ob das, was sie vorwärts trieb, Neugier oder Angst war oder das Gefühl, dass man das Schlimmste gesehen haben musste. Es war besser, wenn man Bescheid wusste, damit man nicht unvorbereitet überfallen werden konnte.
    Und dann stand sie vor dem Jungen. Sie

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