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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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wie eine graue Wolke , in der Malka versank, ohne Grund unter den Füßen zu finden, und alles kam ihr unendlich lang vor. Tage und Nächte reihten sich aneinander und unterschieden sich kaum voneinander, weil der Hunger sie nicht losließ. Es war ein Gefühl, gegen das sie nicht abstumpfte, an das sie sich nie gewöhnte. Hunger und Kälte bestimmten ihre Tage, Hunger und Kälte bestimmten ihre Nächte.
    Und dann bekam sie Fieber. Es fing so langsam an, dass sie es erst gar nicht bemerkte. Anfangs war es nur ein Gefühl von Wärme, fast angenehm, wenn man von der gespannten Haut im Gesicht absah. Aber das Fieber nahm jeden Tag ein bisschen zu und jetzt konnte sie es nicht mehr ignorieren. Ich darf nicht krank werden, dachte sie. Krank werden durfte man nur, wenn man in einem richtigen Haus wohnte, mit einem richtigen Bett, und wenn jemand da war wie die Frau Doktor, der einem Medizin gab und Wadenwickel machte.
    Malka blieb nicht liegen, nicht nur, weil es in ihrem Keller zu kalt war, sondern auch, weil sie Angst davor hatte, dass es dann wahr würde, dass sie krank war. Solange sie herumlief, war alles in Ordnung, wenigstens einigermaßen. Sie hatte auch Angst vor dem Alleinsein, Angst vor der Angst, die sie sich nicht erlauben durfte. Laufen musste sie, einen Fuß vor den anderen setzen, und vor allem trinken, viel trinken. Das hatte die Frau Doktor immer gesagt, trinken, Malkale, wenn man krank ist, muss man viel trinken. Ich bin nicht krank, dachte Malka auf dem Weg zum Brunnen, ich kann noch laufen, das ist ein gutes Zeichen.
    Nach ein paar Stunden ging es ihr wirklich besser. Ihre Haut fühlte sich noch immer heiß und gespannt an und der Bauch tat ihr weh, aber sie ging wieder ihre gewohnten Wege, wie jeden Tag, mit gesenktem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet. Ihr Blickfeld hatte sich geändert, sie nahm fast nur noch Details wahr. Nur selten hob sie den Blick und betrachtete die Fassaden der Häuser oder den Himmel, manchmal auch Menschen. Es war, als wolle sie nichts sehen. Stattdessen waren ihre Ohren viel wacher geworden, große Ohren hatte sie bekommen, aufmerksam und beweglich wie die eines Hasen. Sie fingen jedes Geräusch auf. Vor allem Stiefelschritte, vor allem deutsche Stimmen. Die klangen wie das Peitschenknallen der Kutscher, das ihr früher, als sie noch in Lawoczne gelebt hatte, immer so lustig vorgekommen war. Aber damals hatte sie noch nichts gewusst, jedenfalls nichts von den Dingen, die wirklich wichtig waren. Damals hatte sie manchmal im Gras gelegen, auf dem Rücken, sie hatte den Himmel betrachtet und sich Geschichten über Wolken ausgedacht.
    Jetzt war ihr der Himmel egal, nur der Boden interessierte sie. Ihre Augen waren gut, sie wurden immer besser, sie sah Dinge, die nicht sichtbar waren. Zum Beispiel dicke Pflanzenwurzeln, die tief in der Erde steckten und die man essen konnte. Oder Kartoffelschalen, die unter einem Haufen Papier und Müll verborgen lagen und die irgendjemand, aus Gründen, die sie sich nicht vorstellen konnte, weggeworfen hatte.
    Vor ein paar Tagen hatte sie sogar ein Geldstück gesehen, das unter angeschwemmtem Schmutz in der Gosse lag, unsichtbar für alle, aber ihre Augen waren gut, sie hatte einfach gewusst, dass sie mit den Fingern im Dreck bohren musste, und dann hatte das silberne Geldstück plötzlich vor ihr gelegen. Es war eine fremde Münze gewesen, die sie nicht kannte. Sie hatte sie andächtig hochgehoben und zur Bäckerei getragen.
    Der Bäcker hatte die Münze lange betrachtet, dann hatte er nach einem Messer gegriffen, einen Laib Brot durchgeschnitten und ihr die Hälfte gegeben. Das war ein Lichtblick in dem Grau der dahinfließenden Tage gewesen, die von Hunger bestimmt waren. Der Tag der Brot-Münze.
    Seit zwei Tagen saß Malka von morgens bis abends am Brunnen, nicht weit von einigen Männern, die sich um ein Kohlenbecken scharten, weil es nach ein paar milderen Tagen wieder kalt geworden war. Malka hatte ihren Platz sorgfältig ausgewählt, gerade weit genug, um nicht von den Männern verjagt zu werden, und nahe genug, um noch etwas von der Wärme abzubekommen. Sie hatte Hunger. Sie fühlte sich ausgehöhlt, als würde sie nur noch aus Haut bestehen und wäre innen ganz leer. Dazu war ein ganz seltsames Bauchweh gekommen, unterhalb des Magens, ein Drücken und Ziehen und Wühlen und Bohren. Und dabei hatte sie seit Tagen nicht mehr gekackt.
    Die Wärme vom Kohlenbecken strich über ihr Gesicht und milderte die Kälte des Windes, der

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