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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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vorwärts, wie besessen von etwas, ohne dass es ein Ziel gibt, von einem Tag in den nächsten. So bin ich immer gewesen. Getrieben und ziellos. Das ist der Grund für alles, meine Ziellosigkeit, das besessene Vorwärts. So habe ich mein Studium durchgezogen, so habe ich geliebt, so habe ich geheiratet und Kinder bekommen, so habe ich meinen Beruf ausgeübt, so habe ich Malka geopfert.
    Minna hielt sie fest, Minna streichelte sie, bis sie sich beruhigte und das Zittern aufhörte.
    Als der Lastwagen hielt und sie ausstiegen, war es Nacht. Sie wurden in ein Haus geführt, die Treppen hinauf, viele, viele Treppen, bis auf den Dachboden. Dort befand sich eine Art Schlafsaal mit Feldbetten und Matratzen und überall lagen Menschen. Manche schliefen, andere überfielen die Neuankömmlinge mit Fragen, wo sie herkämen, ob sie etwas von diesem oder jenem gehört hätten, ob es noch möglich sei, über die Grenze zu kommen. Hanna antwortete nicht, sie ließ sich neben Minna auf eine Matratze fallen, hilflos, unfähig zu denken, einem Lumpensack ähnlicher als einem Menschen. Sie hatte nicht nur ihr Kind verloren, sie hatte sich selbst verloren.
    Es hatte geschneit . Der Schnee war nur ein paar Tage lang liegen geblieben, dann war er wieder weggetaut, ohne dass es wärmer geworden wäre. Im Gegenteil. Die Kälte war beißend und gemein. Malka fror. Sie lag in ihrem Versteck auf dem einen Sack, den anderen hatte sie sich um ihre Beine gewickelt. Sie versuchte sich vorzustellen, sie läge in Lawoczne, in ihrem eigenen Bett. Aber es war schwer, sich eine weiche Matratze und eine warme Zudecke vorzustellen, wenn man auf einem harten Boden lag und fror.
    Sie zog ihre Arme und Beine fester an den Körper, um sich selbst ein bisschen Wärme zu schenken oder um die eigene Wärme zu bewahren, aber es half nicht viel. Sogar ihre Füße waren kalt, obwohl sie die drei Paar Socken, die sie besaß, übereinander angezogen hatte, und die rau gewordene Haut an ihren Händen und Armen juckte und spannte. Sie schob die Hände in die Trainingshose, um sie an ihrer nackten Haut zu wärmen. Ihre Oberschenkel fühlten sich knochig und fremd an, als würden sie ihr nicht gehören, fremde Hände auf fremden Beinen, trotzdem war es angenehm, sie zu streicheln. Schade, dass man sich nur nach vorn zusammenkrümmen kann, dachte sie, der Po wäre viel weicher, vielleicht auch wärmer. Sie schob die Hand nach hinten und zog sie sofort wieder zurück. Ihr Po war eiskalt.
    Sie kroch noch tiefer in sich zusammen, zog ihre Jacke über das Gesicht und versuchte, ihren Körper mit ihrem Atem zu erwärmen. Aber ihr Atem, der sich warm anfühlte, wenn sie die Hände vor den Mund hielt, war schon kalt, wenn er ihre Brust traf. Sie war froh, dass sie den Mantel und die Trainingshose hatte, natürlich war sie froh, aber noch besser wäre ein Mantel mit Pelzfutter gewesen, so einer, wie er in Lawoczne in ihrem Schrank hing. Ein schöner, warmer Mantel, außen bunt besticktes Leder, innen Fell.
    Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als die Frau Doktor ihn ihr mitgebracht hatte, zu Beginn des letzten Winters. Malka hatte ihn angezogen, war im Haus herumgehüpft, dann war sie hinausgelaufen, durch das Gärtchen zum Bach. Auf der Wiese, auf der anderen Seite des Bachs, ging Tanja mit der Kinderkarre spazieren, in der ihr kleiner, ewig rotznäsiger Bruder saß. Malka betrat das breite Brett, das über dem Bach lag und als Brücke diente. Warum sie das tat, konnte sie später nicht mehr sagen, Tanja war nicht ihre Freundin, schon lange nicht mehr. Sie konnte auch nicht sagen, warum sie in der Mitte des Stegs plötzlich stehen geblieben war und angefangen hatte zu wippen. Sie erinnerte sich nur noch, wie stolz sie auf ihren neuen Mantel gewesen war. Es hatte ihr auch fast nichts ausgemacht, dass Tanja anfing, »Jüdin, Jüdin« zu schreien, denn schließlich trug Tanja nur ihren Umhang aus einer alten mausgrauen Pferdedecke.
    Malka wippte und wippte und lachte und lachte und dann stolperte sie und fiel in den Bach, der nach einem langen, verregneten Herbst tief und reißend war. Sie wollte schreien, aber die Kälte ließ sie erstarren, kein Ton kam aus ihrer Kehle. Sie wurde vom Wasser mitgerissen, schnappte nach Luft, schlug um sich, hörte Tanja schreien, dann dröhnte nur noch das Wasser in ihren Ohren, laut, immer lauter, sie wurde herumgewirbelt, stieß mit dem Kopf gegen ein Hindernis, fühlte einen Schlag, aber keinen Schmerz, wurde weitergerissen.
    Als sie

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