Malka Mai
die schlimmen Fälle untergebracht und von Freiwilligen gepflegt wurden, nachmittags hielt sie Sprechstunde oder besuchte die Kranken in ihren Unterkünften. Es gab die üblichen Krankheiten, Dysenterien, Erkältungen, Infektionen, Verletzungen, Kinderkrankheiten. Am meisten ärgerte sie sich über gesunde, kräftige Männer, die von ihr krankgeschrieben werden wollten, um sich vor der Arbeit zu drücken. Und jedes Mal, wenn sie ein Mädchen in Malkas Alter behandeln musste, gab es ihr einen Stich. Ansonsten genoss sie es, ihre Arbeit zu tun. In den ersten Tagen hatte sie noch große Angst, sich durch ein unbedachtes Wort zu verraten, aber die Leute verhielten sich achtungsvoll, fast ehrerbietig, und sie schlüpfte immer mehr in ihre neue Rolle als christliche Polin.
Sie hatte ein kleines Zimmer zugeteilt bekommen, mit nur einem Bett, in dem sie mit Minna wohnte und schlief. So eng mit ihrer großen Tochter zusammengepfercht zu sein war ihr unangenehm, ohne dass sie es sich eingestand. Sie merkte nur, dass sie es sich angewöhnte, Hausbesuche erst spät abends zu machen, nur um nicht in ihr Zimmer gehen zu müssen, in dem Minna auf dem Bett lag und Romane las, die sie sich aus der polnischen Bücherei holte. Sie las wie besessen, vielleicht, um nicht sprechen zu müssen, süchtig, wahllos, ein Buch nach dem anderen. Hanna wusste, dass sie unter der Trennung von Ruben litt, und unausgesprochen nahm sie es ihr übel, dass sie nicht wegen Malka litt.
Tagsüber arbeitete Minna in der Küche, die für die Versorgung der Kranken und Alten zuständig war. Nur widerwillig hatte sie diese Stelle angenommen, aber ein junges polnisches Mädchen musste sich nützlich machen, das sah sie ein, und die Alternative, kleine Kinder zu betreuen oder Kranke zu pflegen, war ihr noch furchtbarer vorgekommen, dann doch lieber die Küche. Sie stand jeden Morgen auf und ging zur Arbeit, aber sie war nicht bereit, darüber zu sprechen. Wenn Hanna sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei, zuckte sie mit den Schultern und griff nach einem Buch. Auch wenn Hanna sie mahnte, vorsichtig zu sein, nicht unnötig zu sprechen, um sich nicht zu verraten, zuckte sie nur mit den Schultern und vertiefte sich wieder ins Lesen.
Es war eine seltsame, angespannte Form von Normalität, in der sie lebten, eine gestohlene Normalität, die auf Lüge und Betrug beruhte. Tagsüber, bei der Arbeit, konnte Hanna sich ablenken, aber kaum war sie mit Minna allein im Zimmer, war die Spannung wieder da.
Beide vermieden sie es, über Malka zu sprechen. Auch über Ruben sprachen sie nicht.
Die Aktion kam . Wie beim letzten Mal fuhren Autos mit Lautsprechern durch das Ghetto, wie beim letzten Mal roch Malka die Angst. Sie hatte schlecht geträumt, vielleicht weil sie Fieber hatte, jedenfalls war sie früh aufgewacht und saß schon am Brunnen, als sie die ersten Autos und die ersten deutschen Worte hörte. Sie wusste, sie musste weg, verstecken nützte nichts, die Goldfadens hatten so ein gutes Versteck gehabt und trotzdem waren sie nicht mehr da, deshalb stand sie auf und setzte sich in Bewegung. Aber die Welt um sie herum lag wie in einem Nebel, durch den sie nichts erkennen konnte. Nur ab und zu tauchte ein Gesicht vor ihr auf, ein Fenster, ein Laternenpfahl, und löste sich gleich wieder in Dunst auf.
Wie blind tastete sie sich an Hauswänden entlang, ohne Ziel, nur fort von den deutschen Stimmen, die immer leiser wurden, bis sie ganz verschwunden waren. Malka lief und lief. Irgendwann löste sich der Nebel auf und sie merkte, dass sie diesmal nicht zu der Kirche gelaufen war, in der sie damals Ciotka getroffen hatte. Sie stand vor dem Bahnhof von Skole, auf der arischen Seite. Sie sah keine Juden mehr, auch keine Deutschen, nur Polen und Ukrainer.
Verschwommen stieg in ihr die Erinnerung an Zugfahrten auf, Zugfahrten zu den Großeltern nach Krakau, zu den Verwandten nach Skawina. Zug fahren, das bedeutete viele fremde Menschen, keiner kannte den anderen, niemand fiel auf. Lange stand sie da und betrachtete die Beine, die an ihr vorbeihasteten, hinein in den Bahnhof, dann trat sie ein paar Schritte vor und ließ sich mitziehen. Der Rücken vor ihr, in einem dicken, warmen, grauen Mantel, bewegte sich zu einem Bahnsteig, Malka folgte ihm.
Viele Leute schienen auf einen Zug zu warten. Malka musste sich Mühe geben, sie zu sehen, denn immer wieder verschwamm ihr alles vor den Augen. Sie entdeckte eine Familie mit vier Kindern. Ohne großes Überlegen ging sie hin und
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