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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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stellte sich neben sie. Nicht zu nah, damit die Leute nichts merkten, und nicht zu weit, dass es trotzdem aussah, als würde sie dazugehören. In der Nähe von Kindern fühlte sie sich einigermaßen sicher, fast unsichtbar. Ein Kind fällt nicht auf, ein Kind läuft immer irgendwie mit, dachte sie und überlegte, wo sie diesen Satz gehört hatte, aber es fiel ihr nicht ein.
    Ein Zug donnerte herein, zischend stiegen Dampfwolken auf und Malka trat erschrocken einen Schritt zurück, weil sie das Gefühl hatte, die Lokomotive rase direkt auf sie zu. Doch dann hörte sie die Bremsen quietschen, das Klopfen wurde rhythmischer, langsamer und hörte mit einem nochmaligen Dampfzischen auf.
    Die Leute drängten in den Zug. Malka passte auf, dass sie die Familie mit den Kindern nicht verlor, schob sich hinter dem Vater, der mit ausgebreiteten Armen seine Frau und die Kinder beim Einsteigen schützte, die Treppe hinauf und durch die Tür. Zwei lange Bänke zogen sich an den Wänden entlang, sie setzte sich schnell neben den Vater, der eines der Kinder, einen kleinen Jungen, auf den Schoß nahm.
    Malka schloss die Augen und hörte nur, wie das Abteil immer voller wurde. Sie wurde von rechts näher zu dem Vater mit dem Kind auf dem Schoß geschoben. Ihr war schwindlig, ihr war heiß, sie konnte nicht denken. Sie wollte auch nicht denken. Vor allem nicht daran, was jetzt im Ghetto passierte. Hier im Zug roch es ein bisschen nach Kohlenstaub, fast wie in ihrem Keller.
    Irgendwann gab die Lokomotive ein paar klagende Töne von sich und der Zug setzte sich in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Malka hörte, wie der Dampf zischte, und fühlte, wie sie hin und her gerüttelt wurde. Das Rütteln hörte nicht auf, es wurde nur etwas gleichmäßiger und leichter, auch das Rattern hörte nicht auf. Stimmen mischten sich in das Rattern, Worte, Sätze, die sie nicht verstand, weil ihr Kopf so verschwommen war. Alles zusammen wurde zu einer Musik, zu einer rhythmischen Melodie, von der sie nur Höhen und Tiefen wahrnahm.
    Der Zug hielt, setzte sich wieder in Bewegung, hielt, fuhr weiter. Dann kam der Schaffner. Sie hatte ihn erwartet, sie wusste, dass man seine Fahrkarte zeigen musste, und sie hatte sich vorher überlegt, was sie machen würde. Als er sich der Familie mit den Kindern näherte, stand sie auf und ging an ihm vorbei, Richtung Toilette. Sie musste wirklich pischen. Als sie zurückkam, war der Schaffner schon wieder verschwunden.
    Die Frau, die neben ihr gesessen hatte, rutschte ein bisschen zur Seite und machte Malka Platz. Sie setzte sich, lehnte sich an die Holzwand, schloss die Augen und gab sich wieder dem Geräusch hin, das sich aus vielen verschiedenen, nicht mehr zu unterscheidenden Geräuschen zusammensetzte und zu einer Art Rauschen wurde. In einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen verging die Zeit und Malka kam nur zu sich, wenn sie die schrillen Pfeiftöne der Lokomotive hörte.
    Dann hielt der Zug wieder. Diesmal stiegen alle aus, auch die Familie. Malka erhob sich und folgte ihnen. Sie war an einem fremden Bahnhof, der seltsam düster aussah. Leute liefen vom Bahnsteig weg, andere kamen. Sie blieb stehen und wartete auf Kinder. Eine Frau mit drei Kindern erschien. Sie trug einen Koffer und eine Tasche, die beiden größeren Kinder, zwei Mädchen mit Zöpfen und mit Bündeln auf dem Rücken, kümmerten sich um ihren kleinen Bruder. Malka schob sich zu ihnen hin und wartete, bis sie einstiegen. Diesmal fühlte sie sich schon sicherer, weil der Trick mit dem Schaffner so gut geklappt hatte. Ein Kind fällt nicht auf, ein Kind läuft immer irgendwie mit.
    Der Zug fuhr lange. Die Frau mit den Kindern klappte ihre Tasche auf und schob die Hand hinein. Papier raschelte. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein Butterbrot, das sie dem größeren Mädchen gab. Wieder verschwand sie in der Tasche, wieder raschelte Papier. Malka konnte den Blick nicht von der Tasche wenden, der Geruch nach Brot wurde unerträglich. Sie hatte vorher keinen Hunger gehabt, in den letzten Tagen hatte sie kaum unter Hunger gelitten, aber als jetzt die Hand herauskam, diesmal mit einem Butterbrot für das zweite Mädchen, verschlug es Malka den Atem. Ein drittes Butterbrot kam aus der Tasche, der kleine Junge nahm es und biss sofort hinein.
    Malka merkte, wie ihr schwarz vor den Augen wurde. Sie hatte Hunger, jetzt hatte sie Hunger. Die Frau schaute sie an, Malka erwiderte ihren Blick, legte ihre ganze Sehnsucht nach

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