Malka Mai
gesund.« Auch diesen Satz hatte sie schon einmal gehört, ohne dass ihr einfiel, wo und wann das gewesen war.
Ein andermal wachte Malka auf, als im Zimmer jemand schrie, laut und klagend, ein Schrei, wie sie ihn noch nie gehört hatte. Es war dunkel, der Schrei wurde lauter, schnitt durch die Schwärze, traf Malka und drang durch ihr Fleisch. Dann waren Schritte zu hören, Stimmen, ein Licht leuchtete in der Dunkelheit auf, ein Möbelstück wurde gerückt, es wurde wieder dunkel, die Stimmen und die Schritte verschwanden. Aber Malka meinte noch immer, den schrecklichen Schrei zu hören, er verfolgte sie in ihre Träume, und im Traum wusste sie, wer geschrien hatte, es war der Schrei, den der Junge mit dem zu großen Mantel und den zu großen Stiefeln ausgestoßen hatte und den sie jetzt erst hörte, der Schrei, der sie seit jenem Moment auf dem Bürgersteig begleitete, ohne dass sie es gewusst hatte. Da lag der Junge wieder, mit sehnsüchtig ausgebreiteten Armen, die weit offenen Augen zum Himmel gerichtet, und aus seinem Mund kam der Schrei.
Sie wurde immer wieder wach, wenn jemand sie aus dem Bett hob und zur Toilette führte, aber es dauerte lange, bis sie die Augen aufmachen und sich umschauen konnte. Sie lag in einem großen Raum mit vielen Betten. In ihrer Ecke war es dämmrig, weil ihr Bett hinter einem Wandvorsprung stand, aber dahinter musste eine Wand mit einem Fenster sein, denn ein Sonnenstrahl traf ein anderes Bett, in dem ein Mädchen saß, ein Mädchen in einem weißen Nachthemd, mit einem kahlen, knochigen Schädel, das sie mit riesigen Augen anstarrte. Schnell schloss sie die Augen und zog sich zurück.
Beim nächsten Mal, als sie aufwachte, saß dieses Mädchen im weißen Nachthemd und mit den riesigen Augen am Bett eines Jungen. Die beiden unterhielten sich laut. Plötzlich fing der Junge an zu schreien, er riss sich die Decke vom Körper und brüllte: »Verdammt, ich werde nie mehr laufen können, nie! Kapier das doch endlich! Drei Deutsche, drei Maschinengewehre und ein Haufen Toter und ich mitten drin. Das war’s dann.«
»Nach dem Krieg wirst du einen Rollstuhl bekommen«, sagte das Mädchen. »Nach dem Krieg …«
»Hör auf!«, brüllte der Junge. »Nach dem Krieg, nach dem Krieg … Für mich gibt es kein ›nach dem Krieg‹.«
Malka zog sich die Decke über den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nichts hören, sie wollte nichts sehen, sie wollte nur schlafen.
An ihren freien Tagen fuhr Hanna nach Budapest. Sie besorgte Medikamente, das war die offizielle Begründung für ihre Fahrten, und erkundigte sich beim Palästina-Amt, ob es schon einen Termin für Minnas Abreise gebe. Danach suchte sie eine Organisation nach der anderen auf, lernte die Mitglieder der verschiedenen Hilfsorganisationen kennen, der frommen und der sozialistischen, und überall bat sie, man möge ihr helfen, ihr Kind zurückzubekommen.
Als sie hörte, dass weitere Flüchtlinge aus Lawoczne eingetroffen waren, ging sie zu dem Haus zurück, in dem sie und Minna die erste Zeit in Budapest verbracht hatten. Auf dem Dachboden traf sie ein Ehepaar mit halbwüchsigen Kindern, Hanna kannte die Leute, hatte allerdings nie viel mit ihnen zu tun gehabt. Malka sei in Lawoczne gewesen, sagte die Frau, man habe sie gesehen und es habe Gerüchte gegeben, dass Zygmunt Salewsky von der Gendarmerie sie bei sich aufgenommen hatte, aber ob das stimme, wisse sie natürlich nicht. Hanna bedankte sich für die Auskunft. Sie war erleichtert, sie kannte die Salewskys, sie waren brave Leute. Jetzt hatte sie wenigstens einen Anhaltspunkt bei ihrer Suche.
Von der jüdischen Gemeinde bekam sie die Adresse von einer gewissen Frau Ronay vom Roten Kreuz. Sie sei eine sehr einflussreiche Dame, wenn überhaupt, dann wäre sie in der Lage, Malka nach Budapest bringen zu lassen. Hanna fand das Haus, eine riesige Villa, und wurde von einem Dienstmädchen in einen prachtvollen Salon geführt. Hanna trat zum Fenster und schaute hinaus auf die Straße, die sie gerade entlanggelaufen war. Sie fühlte sich unbehaglich in dieser Umgebung, obwohl sie inzwischen wieder einigermaßen ordentlich aussah, zumindest war sie nicht mehr schmutzig, ihre Hände waren sauber, mit kurz geschnittenen Nägeln, und ihre Kleidung war unauffällig.
Frau Ronay kam herein. Hanna stand unwillkürlich auf. Es war zweifellos eine Dame, die ihr da in einem schlichten, eleganten Kleid entgegentrat. Als Hanna sich als Doktor Mai vorstellte, forderte Frau Ronay sie
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