Malka Mai
über die Schienen, ab und zu drang ein schrilles, klagendes Pfeifen zu ihr durch, als heule die Lokomotive den Himmel an.
Irgendwann merkte sie, dass der Zug stehen geblieben war. Sie machte die Augen auf, kein einziges Bein war mehr zu sehen, kein Fuß, kein Schuh. Sie war allein. Ihr war schlecht und schwindlig und der Bauch tat ihr weh. Dabei war sie nicht wirklich hungrig, sie hatte ja von der Frau ein Stück Brot bekommen, warum tat ihr dann der Bauch so weh?
Draußen war es schon fast dunkel, am Bahnhofsgebäude brannten Lichter. Sie hörte Stimmen, deutsche Stimmen, und riss erschrocken die Augen auf. Drüben, im Licht vor dem Gebäude, glänzten Stiefelschäfte unter deutschen Uniformhosen.
Verzweifelt blickte sie sich um und entdeckte einen Abfallbehälter, aus Holz und groß genug für sie. Mit letzter Kraft zog sie sich an ihm hoch und ließ sich hineinfallen. Sie fühlte Papier, aber unter dem Papier musste noch etwas anderes sein, ein fauliger Gestank drang ihr in die Nase. Sie zog Zeitungsblätter über sich und ließ sich fallen.
Plötzlich spürte sie, dass sie kacken musste. Aber sie konnte nicht aufstehen, sie konnte keinen Abort suchen, da draußen waren die glänzenden Stiefel, und wenn sie sich bemühte, konnte sie immer noch die Stimmen hören, die Deutsch sprachen. Sie musste es einhalten, unbedingt, sie konnte nicht hinaus, die Stimmen, sie schob die Hand zu ihrem Po, versuchte das Loch zuzuhalten, sie krümmte sich vor Schmerzen, fing an zu zittern und dann brach es aus ihr heraus. Sie kackte und kackte und hatte das Gefühl, dass das Leben aus ihr herauslief und nichts mehr von ihr übrig blieb, sie spürte den Brei an ihrer Hand, an ihrer Haut, weich und warm, sie sank tiefer und immer tiefer und dann war nichts mehr.
Im Traum hörte sie Stimmen. Sie wurde getragen, gefahren, getragen. Andere Stimmen drangen an ihr Ohr, von weit weg, ganz weit weg, und verschwanden wieder. Sie spürte, dass jemand sie auszog, sie wusch, und das kalte Wasser an ihrer Haut ließ sie erschauern. Jemand klapperte mit den Zähnen, und als sie merkte, dass sie das war, spürte sie wieder den Drang zum Kacken, ein Drang, gegen den sie sich nicht wehren konnte. Ich bin doch nicht mehr da, dachte sie erstaunt, ich habe mich doch weggekackt, dann versank sie in Dunkelheit.
Malka lag in einem Bett, unter einer Decke, und war so schwach, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie hielt die Augen geschlossen, schlief, döste, trank, was ihr an die Lippen gehalten wurde, später aß sie auch, was man ihr in den Mund steckte, sie ließ sich auf einen Topf setzen und pischte und kackte und wunderte sich, dass man etwas zweimal erleben konnte, dass sie wieder bei den Kopolowicis in der Mühle lag, ohne dass sie die Grenze nach Ungarn überschritten hatte. Dann merkte sie, dass draußen keine Hühner gackerten und dass die Stimmen Polnisch sprachen, nicht Jiddisch.
Sie machte die Augen auf und sah das Gesicht einer Frau vor sich, ein breites Gesicht mit braunen Augen und einer flachen Nase, umrahmt von schwarzen Haaren. Ein schönes Gesicht, das sich aber sofort wieder in Dunkelheit auflöste, und sie überlegte, wann sie schon einmal in schwarze Watte gefallen war, doch sie erinnerte sich nicht. Sie erinnerte sich an gar nichts, sie war taub und blind und nur im Traum konnte sie sehen.
Sie träumte von Teresa, sah das Gesicht vor sich, das sie so liebte, und beobachtete verwundert, wie sich das Gesicht veränderte, wie die blauen Augen dunkler wurden, wie Falten um die Augen entstanden, wie sich Tränensäcke bildeten, wie die Nase, die bei Teresa klein und leicht nach oben gewölbt war, wuchs und sich krümmte, wie ihre glatte Haut große Poren bekam, wie der fröhliche, lachende Mund faltig und ein bisschen schief wurde und wie ein paar Haare aus einer kleinen Warze am Kinn wuchsen. Es war Ciotka. Sie musste lachen, im Traum musste sie lachen, und wachte auf.
»Bist du jetzt wieder da?«, fragte die Frau, die sich über sie beugte. »Dann kannst du uns endlich sagen, wie du heißt, nicht wahr?«
»Malka«, sagte Malka. »Ich heiße Malka Mai.«
»Malka«, wiederholte die Frau, »nun, das ist ein schöner Name, und woher bist du, kleine Königin?«
Malka wusste nicht, was sie antworten sollte, sie wusste nicht, woher sie war, sie wusste gar nichts, aber zum Glück musste sie auch nicht antworten, denn es wurde schon wieder dunkel um sie. Sie hörte noch, wie die Stimme sagte: »Schlaf, Malka, schlaf dich
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