Malka Mai
auf, Platz zu nehmen. Sie läutete und bestellte Tee und Kuchen für ihren Gast. Erst dann fragte sie, was sie für Hanna tun könne.
Hanna fing an zu erzählen, doch als sie berichtete, wie sie Malka bei den Kopolowicis in Pilipiec zurückgelassen hatte, veränderte sich das Gesicht der Dame, wurde missbilligend und abweisend. »Wie konnten Sie das nur tun?«, rief sie aus. »Wie konnten Sie Ihr eigenes Kind allein zurücklassen?«
Hanna wollte sich verteidigen, aber sie merkte, dass die Frau ihr nicht mehr zuhörte. Sie hatte es auf einmal sehr eilig. Bevor sie sie entließ, gab sie ihr noch Unterwäsche für sie und Minna mit, Unterwäsche war knapp in Budapest, das wusste jeder, und drückte ihr noch die ungeheure Summe von zweihundert Pengö in die Hand. »Ansonsten kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Wer findet in diesen Zeiten schon ein verloren gegangenes Kind?« Hanna meinte, Missbilligung und Verachtung in der Stimme der Frau zu hören und Missbilligung und Verachtung in ihrem verschlossenen Gesicht zu sehen.
Im Zug nach Korad dachte sie: Diese aufgeblasene, hochnäsige Person! Die weiß ja nicht, wie das ist, wenn man in Lebensgefahr schwebt. Die weiß nicht, wie das ist, wenn man für eine weitere Tochter verantwortlich ist, diese Dame mit ihrem vollen Bauch und den Dienstmädchen und einem Mann, der ihr alle Sorgen fern hält.
An diesem Abend kam sie völlig zerschlagen zu Hause an. »Nichts klappt«, sagte sie. »Niemand will mir helfen.«
Minna schaute nicht von ihrem Buch hoch, als sie sagte: »Warum wendest du dich nicht an deinen alten Liebhaber? Peschl ist doch bestimmt wieder in Lawoczne. Schreib ihm einen Brief, oder noch besser, ruf ihn an. Er ist dir doch was schuldig, oder nicht?«
Hanna hätte Minna am liebsten das Buch aus der Hand gerissen und sie geohrfeigt, tat es aber nicht. Sie wollte nicht darüber nachdenken, ob es Scham war, die sie davon abhielt, oder Angst, sie und Minna könnten durch einen lautstarken Streit unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie mussten sich unauffällig verhalten, damit niemand an ihrer Identität als christliche Polen zweifelte. Sie drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer.
Es war leichtsinnig für eine Frau, abends allein herumzulaufen, aber sie brauchte jetzt Bewegung. Schon immer war sie so gewesen, wenn sie unruhig war, musste sie sich bewegen, irgendetwas tun, notfalls nur Dinge von einem Platz auf den anderen legen, nur ja nicht stillsitzen. Schon in der Schule hatte ihr das Schwierigkeiten gemacht, beim Studium, im Krankenhaus. »Hören Sie endlich auf, immer so herumzuhampeln«, hatte der Chefarzt gesagt, der sie sowieso nicht leiden konnte, entweder weil sie eine Frau war oder weil sie Jüdin war oder wegen beidem.
Sie lief um das Lager herum, ohne zu schauen, wohin sie trat, und war in Gedanken in Lawoczne, bei Heinz Peschl, der so wunderbar Geige spielen konnte. Damals, in der Zeit seiner ersten Begeisterung, hatte er versprochen, für sie und ihre Töchter zu sorgen. Er würde falsche Papiere auftreiben, hatte er gesagt, und sie alle drei nach Deutschland bringen. Hanna hatte gelacht und abgelehnt, sie liebte ihren Beruf, warum sollte sie das alles aufgeben? Sie hatte die Gefahr nicht gesehen, sie hatte sie nicht sehen wollen, weil sie von so unerwarteter Seite kam.
Wären es blutrünstige, mordende Horden gewesen, die in die Häuser der Juden eindrangen, hätte sie die Gefahr sofort verstanden, die Angst vor Pogromen lag ihr im Blut, mit diesen Geschichten war sie aufgewachsen, Pogrome bedeuteten Gewalt und Tod. Aber ein Deutscher in einem sauberen Anzug, in einer gebügelten Uniform, der eine Verordnung unterschrieb? Sie hatte nur an bürokratische Schikanen geglaubt, hatte gedacht, man müsse nur den Kopf einziehen und abwarten. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn sie in einer großen Stadt gelebt hätte, aber in Lawoczne erfuhr man nicht viel.
Sie schüttelte den Kopf, als wäre dieser Einwand von einem unsichtbaren Gesprächspartner gekommen. Nein, auch in einer großen Stadt wäre es nicht anders gewesen, der Leichtsinn und die Naivität waren Teil ihrer Person. Sie brauchte sich doch nur die wohlhabenden jüdischen Bürger Budapests anzuschauen. Sie fühlten sich sicher, sie flohen nicht, obwohl sie doch von den jüdischen Flüchtlingen erfuhren, was die deutsche Wehrmacht tat. Immer neue Geschichten von Juden, die ihr eigenes Massengrab graben mussten und dann erschossen wurden, von ganzen
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