Malka Mai
Zügen, bestehend aus Viehwaggons voller Juden, die mit unbekanntem Ziel losfuhren und leer wieder zurückkamen. Und mitten in all dem das Kind mit den blonden Zöpfen, ihre Malka.
Vielleicht sollte sie wirklich versuchen, Peschl anzurufen. Aber sie wusste, dass er ihr nicht helfen würde. Damals, als sie die Stelle als Kreisärztin verlor, hatte sie ihn um Hilfe gebeten, aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, so seien die Gesetze nun mal, da könne man nichts ändern. Er hatte Ausflüchte gemacht, war immer seltener gekommen und am Schluss ganz weggeblieben. Sie hatte das bedauert, aber sie war ihm nicht nachgelaufen, dazu war sie zu stolz. Heinz Peschl war ein gut aussehender, gebildeter Mann, er hatte ihr von Anfang an gefallen, obwohl er ein Deutscher war. Oder weil er ein Deutscher war? Dieser Gedanke erschreckte sie und trieb ihr das Blut ins Gesicht.
Nein, sie würde ihn nicht anrufen, und zwar nicht deshalb, weil ihr Stolz ihr das nicht erlaubte, ihr Stolz war nichts mehr wert, eine überflüssige, sogar schädliche Eigenschaft in ihrer Situation, ein dummer Luxus. Sie würde Heinz Peschl deshalb nicht anrufen, weil von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Heinz Peschl war ein gut aussehender Feigling, sonst nichts. Und seine Feigheit könnte Malka eher schaden. Eine lästige Mutter, die ihm auf die Nerven ging, könnte ihn dazu bringen, ein Kind verschwinden zu lassen, um das Problem los zu sein.
Als Hanna ins Zimmer kam, lag Minna im Bett, mit dem Gesicht zur Wand, und hatte die Augen geschlossen. Aber Hanna wusste, dass sie nicht wirklich schlief. Sie zog sich aus, legte sich vorn an den äußersten Rand des Bettes und machte das Licht aus.
»Minna«, sagte sie in die Dunkelheit, »Minna, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Minna hatte nicht geschlafen, Hanna merkte es daran, wie sie schluckte. Eine Weile war es still, dann sagte Minna: »Du hast Malka dort gelassen, du musst sie auch holen.«
Auf einmal war alles ganz klar. »Ja«, sagte Hanna. »Ich muss sie holen.«
Beide schwiegen. Hanna wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht war ihr dieser Satz nur herausgerutscht, um Minnas Vorwurf zu begegnen. Denn die Vorstellung, in die Höhle des Löwen zurückzukehren, war so abwegig, dass sie von selbst nicht darauf gekommen wäre. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Die Entscheidung war gefallen und es war gut so. Endlich hatte sie ein Ziel. Sie würde das Kind holen.
Malka kroch tiefer in ihre warme, dunkle Höhle und drückte sich hinten an die Wand, um den Händen auszuweichen, die sie hinauszerren wollten, in die Kälte, in das grelle Licht. Nein, rief sie, nein, aber die Hände packten sie und zogen sie erbarmungslos hinaus. »Malka, aufwachen, Doktor Burg wartet auf dich«, sagte eine Frau.
Malka machte die Augen auf. Es war die Frau mit dem breiten Gesicht. Sie stand vor dem Bett und hielt Malkas Sachen über dem Arm, das Kleid, die Jacke, die Hose. »Wo ist mein Mantel?«, fragte sie erschrocken. »Wo sind meine Schuhe?«
»Ist alles noch da«, sagte die Frau beruhigend. »Die Schuhe stehen hier, vor deinem Bett, und der Mantel ist auf dem Dachboden, zum Trocknen.«
Die Frau schlug die Decke zurück und Malka sah erst jetzt, dass sie ein dickes, himmelblaues Flanellnachthemd trug, ähnlich dem, das Ciotka getragen hatte, nur kleiner. »Wo bin ich?«, fragte sie.
»Im Krankenhaus, du warst sehr krank, du hattest Typhus«, antwortete die Frau. »Ich bin Schwester Rosa.«
Sie half Malka beim Anziehen. Die Kleidungsstücke waren gewaschen, der Geruch nach Seife stieg in Malkas Nase. Auch die Socken waren gewaschen, sie fühlten sich überraschend weich an. Als sie die Schuhe anzog, fiel ihr plötzlich der Zug ein, die Schuhe, die sie von ihrem Versteck unter der Bank aus gesehen hatte, der fremde Bahnhof. »In welcher Stadt bin ich?«, fragte sie.
»In Stryj«, sagte Schwester Rosa erstaunt. »Wo denn sonst?«
»Im Ghetto?«
»Wo denn sonst?«, sagte Schwester Rosa noch einmal. »Was stellst du denn für dumme Fragen. Und jetzt komm, ich habe noch mehr zu tun.«
Malka folgte ihr, vorbei an dem Kopf mit den riesigen Augen, vorbei an etlichen anderen Augen. Im Nebenzimmer stand die Tür offen, Gitterbetten waren zu sehen, ein kleines Kind weinte. Schwester Rosa klopfte an die Tür eines anderen Zimmers und schob Malka hinein. Hier sah es aus wie im Ambulatorium der Frau Doktor in Lawoczne, aber es war ein Mann, der sie auf eine Untersuchungsliege
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