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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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wenn ich so aussehe?, dachte sie. Das ist ihr Trick, sie richten mich so her, damit ich nicht mehr weglaufen kann. Ich muss hier bleiben, weil mir niemand mehr etwas geben wird, wenn ich so aussehe. Der Weg zurück war ihr versperrt. Nur schönen Kindern gab man Brot.
    Plötzlich fing sie an zu weinen, sie konnte nicht mehr, das, was ihr jetzt passiert war, überstieg alles, jetzt war sie endgültig nicht mehr das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie war nicht mehr Malka Mai, die Tochter von Frau Doktor Mai, sie war ein anderes Mädchen, das zufällig Malka Mai hieß, niemand würde sie erkennen und Teresa würde sagen: Schaut mal, Marek und Julek, dieses hässliche Mädchen da will unsere Malka sein! Antek würde erst strahlen, wenn er ihren Namen hörte, aber wenn er sie sah, würde er anfangen zu weinen und Teresa würde einen Besen nehmen und sie aus dem Haus jagen.
    Die Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Sie merkte, wie der alte Schmulik sie auf den Schoß zog und ihren geschundenen Kopf streichelte und sie nur noch fester umfasste, als sie sich wehrte. Sie trat nach ihm, sie schlug gegen seine Brust, sie wollte sterben. So leer, so falsch musste sich der Junge mit dem viel zu großen Mantel und den viel zu großen Stiefeln gefühlt haben, jetzt verstand sie ihn, jetzt wusste sie, warum er die Arme ausgebreitet hatte. Es war keine Sehnsucht gewesen, sondern Hilflosigkeit, er hatte nicht mehr weitergewusst. Ich bin wie er, dachte sie und sah sich selbst im Dreck liegen. Sie breitete die Arme aus, aber Schmulik hielt sie fest, sie fiel nicht in den Dreck.
    Irgendwann war sie leer geweint. Schmulik zog ein Taschentuch hervor, sie wischte sich das Gesicht ab und schnäuzte laut. »Na also«, sagte Schmulik. »Es geht ja wieder. Sei nicht traurig, deine Haare wachsen nach.«
    Sie nickte, auch wenn sie ihm nicht glaubte, weil sie es sich nicht vorstellen konnte und weil es ohnehin schon egal war, sie musste sich damit abfinden, es war passiert.
    »Die Läuse nehmen überhand bei langen Haaren«, sagte Schmulik. »Und glaub mir, es gibt keinen Krieg ohne Läuse. Die Läuse sind immer dabei und sie gewinnen jeden Krieg.«
    Malka lächelte, weil sie ein Heer von Läusen gegen einen deutschen Soldaten kämpfen sah. David gegen Goliath.
    Er nahm die beiden abgeschnittenen Zöpfe in die Hände und betrachtete sie. »Ich hatte mal eine Enkelin«, sagte er, »die hatte genau solche Haare wie du, genau so, wie Gold. Schenkst du mir deine Zöpfe?«
    Malka nickte, die Zöpfe gehörten nicht mehr zu ihr, sie waren ihr egal. Sie fragte nicht, was mit seiner Enkelin passiert war, sie wollte es nicht wissen, denn plötzlich war ihr die weißhaarige Frau aus dem ungarischen Gefängnis eingefallen, die Polin aus Krakau, und was sie über ihre Mutter und ihre Kinder erzählt hatte. Den Namen der Frau hatte sie vergessen, aber ihre Stimme hatte genauso leer und verloren geklungen wie Schmuliks.
    Schmulik stand auf und zog unter einer Pritsche, die Malka erst jetzt bemerkte, einen kleinen Lederkoffer hervor. Malka schaute zu, wie er den Koffer mit einem Schlüssel aufschloss. Ein Tallit 14) lag darin, den kannte sie von ihrem Großvater, und ein paar Bücher. Er legte die Zöpfe in den Koffer, schloss ihn zu und schob ihn wieder unter die Pritsche.
    14) Tallit: Gebetsmantel; viereckiges Tuch mit Quasten an den Ecken. Es wird von männlichen Personen beim Morgengebet getragen.
    Aber da war Malka schon draußen. Sie ging nicht nach links, zur Treppe, die hinaufführte, niemand sollte sie so sehen, sie lief nach rechts und machte die Tür am Ende des Gangs auf, in der Hoffnung, so etwas wie einen Kohlenkeller zu finden. Aber es war kein Kohlenkeller.
    Sie stand in einem ziemlich großen Raum, der nur von zwei kleinen Klappfenstern erhellt wurde. Als Erstes nahm Malka einen seltsamen Geruch war, dann, als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah sie, dass der Raum fast leer war, nur ein paar Tische standen darin. Eigentlich waren es keine Tische, sondern Holzböcke, auf denen Platten lagen. Und darauf standen längliche Kisten aus rohem, unbehandeltem Holz. Sie erkannte sofort, dass es Särge waren, auch wenn sie anders aussahen als die Särge, die sie früher schon gesehen hatte, nicht feierlich schwarz und verziert. Sie waren offen. Zögernd trat Malka näher und schaute hinein. Zwei waren leer, im dritten lag eine tote alte Frau.
    Malka lief ein Schauer über den Rücken. Plötzlich stand der alte Schmulik neben

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