Malloreon 4 - Zauberin von Darshiva
muß.«
»Wird Cyradis ihr gestatten, Einblick in die Evangelarien zu nehmen?« fragte Durnik.
»Wahrscheinlich. Cyradis ist immer noch neutral und wird keiner Seite einen Vorteil über die andere verschaffen.«
Garion erhob sich. »Ich gehe an Deck, Großvater. Ich muß über etwas nachdenken, und die Seeluft verhilft mir vielleicht zu einem klaren Kopf.« Die Lichter von Melcene glitzerten tief am Horizont hinter ihnen, und der Mond warf einen silbernen Pfad über das Meer. Der Kapitän stand reglos hinter dem Steuerrad auf dem Achterdeck.
»Ist es nachts nicht schwierig den Kurs beizubehalten?« fragte ihn Garion.
»Durchaus nicht«, versicherte ihm der Kapitän. Er deutete zum Sternenhimmel. »Die Jahreszeiten kommen und gehen, doch die Sterne verändern sich nie.«
»Nun«, sagte Garion, »wir wollen es hoffen.« Dann ging er nach vorn und lehnte sich am Bug an die Reling.
Der Nachtwind in der Meerenge zwischen Melcena und dem Festland war launenhaft. Die Segel blähten sich und erschlafften in unregelmäßigen Abständen, und ihr Dröhnen hörte sich wie eine Bestattungstrommel an. Das paßte zu Garions Stimmung. Lange spielte er achtlos mit einem Tauende und starrte über die mondhellen Wellen, dabei hing er nicht so sehr seinen Gedanken nach, sondern ließ auf sich einwirken, was seine Sinne aufnahmen.
Er wußte, daß sie da war. Das lag nicht allein an dem Duft, der ihm seit seiner frühesten Kindheit vertraut war, sondern an der inneren Ruhe, die sie ausstrahlte. Seltsam abwesend folgte er seinen Erinnerungen rückwärts. Ihm schien, daß er immer genau gewußt hatte, wo sie war. Selbst in den dunkelsten Nächten, wenn er in einer fremden Kammer in irgendeiner götterverlassenen Stadt aus dem Schlaf geschreckt war, hätte er mit absoluter Sicherheit sagen können, wo sie sich befand. Der Kapitän dieses Schiffes konnte sich nach den Sternen am Himmelszelt richten doch der Stern, der Garion sein ganzes Leben geleitet hatte, war kein fernes Funkeln am samtigen Firmament. Er war viel näher und viel beständiger. »Was beunruhigt dich, Garion?« fragte jemand und legte sanft eine Hand auf seine Schulter.
»Ich konnte seine Stimme hören, Tante Pol – Toraks Stimme. Er haßte mich schon Tausende von Jahren, ehe ich geboren wurde. Er kannte sogar meinen Namen!«
»Garion«, sagte sie ruhig, »das Universum kannte deinen Namen bereits, ehe der Mond da oben aus der Leere wirbelte; Konstellationen warteten seit Anbeginn der Zeit auf dich.« »Das wollte ich nicht, Tante Pol.«
»Es gibt welche unter uns, die keine Wahl haben, Garion. Bestimmte Dinge müssen getan werden und bestimmte Leute müssen sie tun. So ist das nun einmal.«
Er blickte ihr mit traurigem Lächeln ins makellose Gesicht und berührte sanft die schneeweiße Strähne über ihrer Stirn. Dann stellte er zum letztenmal in seinem Leben die Frage, die ihm immer auf der Zunge gelegen hatte, schon als er ein kleiner Junge gewesen war. »Warum ich, Tante Pol? Warum ich?«
»Weißt du irgend jemand anderen, dem du zutraust, diese Dinge zu tun, Garion?«
Auf diese Frage war er nicht vorbereitet gewesen. Doch nun verstand er. »Nein«, antwortete er seufzend. »Ich glaube nicht. Aber ich finde es ein bißchen ungerecht. Ich wurde nicht einmal gefragt.«
»Genausowenig wie ich, Garion«, sagte sie. »Aber das war auch nicht nötig, nicht wahr? Wir wurden mit dem Wissen geboren, was zu tun ist.« Sie legte die Arme um ihn und zog ihn an sich. »Ich bin so stolz auf dich, mein Garion«, sagte sie.
Er lachte trocken. »Ich nehme an, ich habe mich als verhältnismäßig brauchbar erwiesen. Zumindest weiß ich, welcher Schuh an welchen Fuß gehört.«
»Aber du hast ja keine Ahnung, wie oft ich dir das erklären mußte«, antwortete sie lächelnd. »Du warst ein guter Junge, Garion, aber du hast nie zugehört. Sogar Rundorig paßte auf, wenn ich was sagte. Er hat es zwar gewöhnlich nicht verstanden, aber zumindest hörte er zu.« »Er fehlt mir manchmal. Er und Doroon und Zubrette.« Nachdenklich fragte Garion: »Haben sie eigentlich geheiratet? Rundorig und Zubrette?« »O ja. Vor vielen Jahren. Sie haben fünf Kinder. Ich bekam jeden Herbst eine Nachricht und mußte dann auf Faldors Hof zurück, um Zubrette von ihrem neuesten Kind zu entbinden.« »Das hast du getan?« staunte er.
»Ganz sicher hätte ich es von niemand anderem tun lassen. Zubrette und ich waren zwar in mancherlei Hinsicht nicht derselben Meinung, aber ich mag sie trotzdem
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