Malloreon 5 - Seherin von Kell
die sie in Drachengestalt angegriffen hatte. »Das Feuer war doch gar nicht echt«, hatte der Jüngling erklärt. »Wußtet ihr das denn nicht?« hatte er erstaunt gefragt. »Es war nur ein Trugbild. Das ist alles, was das Böse je wirklich ist – eine Täuschung. Tut mir leid, wenn ihr euch Sorgen gemacht habt, aber ich hatte keine Zeit für Erklärungen.«
Das war der Schlüssel, das verstand Garion jetzt. Halluzination entstand aus Wahnsinn; Illusion nicht. Er verlor nicht den Verstand. Das Gesicht des Königs der Hölle war so wenig echt, wie das Trugbild von Arell gewesen war, das Ce'Nedra im Wald außerhalb von Kell gesehen hatte. Die einzige Waffe, die das Kind der Finsternis gegen das Kind des Lichtes hatte, war Illusion, eine geschickte Täuschung des Geistes. Es war eine mächtige, aber zerbrechliche Waffe. Ein Lichtstrahl konnte sie zerstören. Er schritt weiter. »Garion!« rief Silk.
»Achte nicht auf die Fratze«, riet ihm Garion. »Sie ist nicht echt. Zandramas versucht uns in den Wahnsinn zu treiben. Das Gesicht gibt es nicht. Es hat nicht einmal soviel Substanz wie ein Schatten.« Zandramas zuckte zusammen, und das ungeheuerliche Gesicht hinter ihr verzerrte sich und verschwand. Ihr Blick hastete hierhin und dorthin und hielt am Portal zur Höhle inne. So sicher, als könne er es sehen, wußte Garion, daß sich etwas in dieser Höhle befand – etwas, das die letzte Verteidigung der Zauberin war. Dann, scheinbar völlig unberührt von der Aufdeckung der Waffe, die dem Kind der Finsternis immer so wirkungsvoll gedient hatte, gab sie ihren übriggebliebenen Grolims ein Zeichen.
»Nein!« Das war die helle klare Stimme der Seherin von Kell. »Das darf ich nicht zulassen. Der Ausgang muß durch die Wahl entschieden werden, nicht durch sinnlose Kämpfe. Steckt Euer Schwert ein, Belgarion von Riva, und Ihr, Zandramas von Darshiva, ruft Eure Knechte zurück!«
Garion stellte fest, daß seine Beinmuskeln sich plötzlich verkrampft hatten und er nicht einen Schritt tun konnte. Schmerzvoll wandte er den Kopf. Er sah Cyradis, jetzt von Eriond geleitet, die Treppe hinunterkommen, unmittelbar gefolgt von Tante Pol, Poledra und Ce'Nedra.
»Die Aufgabe, die ihr beide hier erfüllen müßt«, fuhr Cyradis mit einer von Echos begleiteten Stimme fort, »ist nicht, einander zu töten, denn sollte es dazu kommen, daß einer von Euch den anderen tötet, wird Eure Aufgabe unerfüllt bleiben, und dann kann auch ich meine nicht zu Ende führen. Damit würde alles, was ist, alles, was war, und alles, was erst noch sein soll, für immer verloren sein. Steckt Euer Schwert ein, Belgarion, und schickt Eure Grolims fort, Zandramas. Begeben wir uns an den Ort, der nicht mehr ist, und treffen unsere Wahl. Das Universum wird unserer Verzögerung müde.«
Widerwillig schob Garion sein Schwert in die Scheide zurück, doch die Zauberin von Darshiva kniff die Augen zusammen und befahl ihren Grolims mit eisiger Stimme: »Tötet sie! Im Namen des neuen Gottes von Angarak tötet die blinde dalasische Hexe!« Die restlichen Grolims, deren Gesichter von religiöser Verzückung erfüllt waren, schritten zum Fuß der Treppe. Eriond seufzte und stellte sich schützend vor Cyradis.
»Das ist nicht nötig, Träger des Auges«, versicherte ihm Cyradis. Sie senkte ganz leicht den Kopf, und die Chorstimme schwoll zum Crescendo. Die Grolims stockten, dann tasteten sie um sich und starrten mit blicklosen Augen in das Tageslicht.
»Das ist wieder dieser Zauberbann«, flüsterte Zakath, »der gleiche wie um Kell. Sie sind blind.«
Doch was die Grolims jetzt in ihrer Blindheit sahen, war nicht das Gesicht Gottes, das der greise, sanfte Torak-Priester im Hirtenlager über Kell gesehen hatte, sondern etwas völlig anderes. Die Grolims schrien zuerst erschrocken, dann furchterfüllt, schließlich brüllten sie gellend, drehten sich um, stolperten übereinander und krochen auf Händen und Füßen, um dem, was sie sahen, zu entgehen. Blind krochen sie zum Rand des Wassers, offenbar erpicht, dem hünenhaften Grolim zu folgen, in dessen Gesicht Sadi sein ungewöhnliches Pulver geworfen hatte. Sie wateten in die nun sanften Wellen, und einer nach dem anderen stieg über die Treppe in das tiefe Wasser.
Ein paar konnten schwimmen, aber nicht viele. Jene, die es vermochten, schwammen verzweifelt hinaus aufs Meer und in den unausweichlichen Tod. Jene, die es nicht konnten, gingen unter, ihre flehenden Hände ragten noch aus dem Wasser, nachdem die Köpfe
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