Malloreon 5 - Seherin von Kell
Nachmittag ließen sie den letzten Schnee hinter sich und ritten in eine Frühlingslandschaft. Auf den steilen Wiesen wuchs saftiges Gras, und die bunten Blumen nickten im Wind. Bäche, die direkt von den Gletschern kamen, hüpften und brausten über glänzende Steine, und Rehe blickten ihnen in sanftem Staunen nach, als sie vorbeigeritten waren.
Ein paar Meilen unterhalb der Schneegrenze sahen sie große Herden Schafe, die geistlos darin vertieft waren, Gras und Blumen gleichermaßen zu fressen. Die Schäfer, die sie hüteten, trugen weiße Kittel und saßen, ihren Tagträumen nachhängend, auf Felsblöcken, während ihre Hunde die ganze Arbeit machten.
Die Wölfin trottete ruhig neben Chretienne her, doch ihre Ohren zuckten hin und wieder, und ihre hellbraunen Augen beobachteten die Schafe angespannt.
»Ich würde es nicht raten, kleine Schwester«, sagte Garion in der Sprache der Wölfe zu ihr.
»Ich habe es auch nicht wirklich in Betracht gezogen«, versicherte sie ihm. »Ich bin diesen Tieren schon öfter begegnet – und den Menschenwesen und Hundewesen, die sie bewachen. Es ist nicht schwer, sich eines der Tiere zu holen, aber die Hundewesen werden dann sehr aufgeregt, und ihr Bellen stört beim Fressen.« Sie ließ die Zunge in wölfischem Grinsen aus dem Maul hängen. »Aber man könnte diese Tiere hetzen. Alle sollten wissen, wem der Wald gehört.«
»Das würde dem Rudelführer nicht gefallen, fürchte ich.«
»Das fürchte ich auch«, bestätigte sie. »Vielleicht nimmt der Rudelführer sich selbst zu ernst. Mir ist diese Eigenschaft an ihm schon aufgefallen.« »Was sagt sie?« fragte Zakath neugierig.
»Sie dachte daran, die Schafe zu hetzen«, antwortete Garion. »Nicht unbedingt, um sie zu töten, nur um sie herumzujagen. Ich glaube, so was amüsiert sie.«
»Amüsieren? Glaubst du wirklich, daß man dieses Wort bei einem Wolf anwenden kann?«
»Warum nicht? Wölfe spielen gern und haben einen ganz ausgeprägten Sinn für Humor.«
Zakaths Miene wurde sehr nachdenklich. »Weißt du was, Garion«, sagte er schließlich, »der Mensch bildet sich ein, daß die Welt ihm gehört, aber wir teilen sie mit allen möglichen Arten von Kreaturen, die sich um unsere Oberherrschaft überhaupt nicht kümmern. Sie haben ihre eigenen Gesellschaftsstrukturen und sogar ihre eigenen Kulturen. Sie achten wirklich nicht auf uns, oder?« »Nur, wenn wir ihnen lästig werden.«
»Das ist ein niederschmetternder Schlag für das Ego eines Kaisers.« Zakath lächelte schief. »Wir sind die beiden mächtigsten Männer auf Erden, und Wölfe sehen in uns nicht mehr als etwas, das ihnen lästig fallen kann.«
»Es lehrt uns Demut«, bestätigte Garion. »Demut ist gut für die Seele.« »Vielleicht.«
Es war Abend, als sie das Lager der Schäfer erreichten. Da ein Schaflager mehr oder minder ständig benutzt wird, ist es gewöhnlich besser als die schnell aufgebauten Lager von Reisenden. Die Zelte waren größer und standen zu beiden Seiten einer Straße aus dicht gefügten Baumstämmen. Die Koppeln für die Pferde der Schäfer befanden sich am unteren Straßenende, und Stämme dämmten einen Bergbach, so daß ein klarer Teich entstand, der Wasser für Schafe und Pferde bot. Die Abendschatten fielen bereits über das kleine Tal, in dem sich dieses Lager befand, und blaue Rauchfahnen stiegen in der unbewegten Luft kerzengerade von den Kochfeuern auf.
Ein großer, hagerer Mann mit tief sonnengebräuntem Gesicht und schneeweißem Haar, der einen weißen Kittel trug – offenbar die hier übliche Kleidung der Schafhirten –, trat aus einem Zelt, als Garion und Zakath vor dem Lager ihre Pferde zügelten. »Euer Kommen wurde uns angekündigt«, sagte er. Seine Stimme war sehr tief und ruhig. »Gebt ihr uns die Ehre, mit uns zu Abend zu essen?« Garion blickte ihn näher an, und ihm fiel seine Ähnlichkeit mit Vard auf, dem Mann, den sie auf der Insel Verkat, die halbe Welt entfernt, kennengelernt hatten. Es konnte jetzt keinen Zweifel mehr geben, daß die Dalaser und die Sklavenrasse in Cthol Murgos verwandt waren.
»Wir fühlen uns geehrt«, erwiderte Zakath auf die Einladung, »aber wir möchten Euch keine Umstände machen.«
»Das tut ihr keineswegs. Ich bin Burk. Ich werde ein paar meiner Männer schicken, damit sie sich eurer Pferde annehmen.« Die anderen holten auf und hielten an.
»Seid alle willkommen«, begrüßte Burk sie. »Bitte sitzt ab, das Abendmahl ist fast fertig, und wir haben ein Zelt für euch
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