Malory
erste Eindruck ist immer der entscheidendste und prägt sich am intensivsten ein. Wenn er bei ihrem ersten Zusammentreffen nichts Seltsames an ihrem Äußeren finden würde, dann konnte sie schon einmal fürs Erste beruhigt sein. Aber im Augenblick war sie noch nicht bereit, nach dem Kapitän Ausschau zu halten, denn das große »Wenn« hielt sie in der brütendheißen Küche wie angenagelt fest, obwohl ihr die Kleider am Körper klebten und sie fürchterlich schwitzte.
Uber ihr Haar hatte sie einen engen Strumpf gezogen und das Ganze unter die alte Wollmütze gestopft, unter der die schweißverklebten Haare unerträglich zu kribbeln begannen. Wenn der Kapitän nichts Ungewöhnliches an ihr entdeckte, dann war alles in Ordnung. Aber was wäre, wenn ausgerechnet er der einzige an Bord wäre, dessen aufmerksa-men Augen ihre Verkleidung nicht entgehen würde? Und wenn er sie entlarven würde, bevor sie den Kanal erreicht hatten, dann könnte es ganz leicht passieren, daß sie sich eher sehr schnell wieder an Land befinden würde* als den Rest der Reise im Laderaum eingesperrt zu verbringen. Am schlimmsten wäre, wenn man sie allein an Land zurückschicken würde, ohne Mac, denn er war an Bord viel unent-behrlicher als ein Schiffsjunge. Wenn der Kapitän aber Mac nicht mir ihr gehen ließ, hätte sie keine Möglichkeit, dagegen etwas zu unternehmen.
Deshalb blieb Georgina erst einmal in der Kombüse, wo sie schon als Georgie MacDonell akzeptiert war. Daß sie eine Spur zu lange dort herumgetrödelt hatte, wurde ihr erst klar, als Shawn ihr ein Tablett in die Hand drückte. Die silbernen Abdeckhauben und das feine Besteck konnten wohl kaum für sie bestimmt sein.
»Was, ist der Kapitän etwa schon an Bord?«
»Gütiger Himmel, ja hast du denn nicht mitgekriegt, daß er schon die ganze Zeit mit einem Brummschädel in seiner Kabine sitzt? Mr. Sharpe übernimmt das Ablegen.«
»Oh.« Verdammtes Pech, warum hatte ihr denn niemand was gesagt? Wenn er sie nun schon erwartet hatte? Oder gar ihre Dienste benötigt? Das war ja ein guter Anfang!
»Ich glaub', ich ... ja, ich geh wohl...«
»Und zwar ein bißchen plötzlich, Mann. Paß auf, daß du es nicht runterschmeißt. Ist doch nicht zu schwer für dich halbes Hemd, oder? Egal. Auf alle Fälle vergiß nicht, in Deckung zu gehen, wenn er dir den ganzen Kram hinterher-schmeißt.«
Das Geschirr auf dem Tablett klapperte beängstigend, als Georgina abrupt stehen blieb. »Warum sollte ... um Himmels willen, er wird doch nicht mit dem Essen nach mir werfen?«
Shawn grinste breit und zuckte mit hilfloser Geste die Schultern. »Woher soll'n ich das wissen? Kenn ihn ja kaum.
Aber wenn'n Mann so'nen verkaterten Kopf hat, kann man nie wissen. Is' nich' so? Sei immer auf der Hut, Kleiner, den guten Rat geb ich dir.«
Wunderbar. Den kleinen Burschen noch nervöser machen, als er eh schon ist. Sie hatte gar nicht geahnt, daß Mr. Shawn so einen feinen Humor besaß. Zur Hölle mit ihm!
Es war ein langer Weg bis zum Achterdeck, wo die Kapitänskabine und die seiner Offiziere lag. Ein langer Weg auch deshalb, weil sie nicht an der englischen Landschaft vorbei-sehen konnte, die sich an Steuerbord ausbreitete. Verzweifelt hielt sie statt dessen nach Mac Ausschau, um sich von ihm ein wenig aufmuntern zu lassen, aber der war nirgends zu sehen. Das Tablett wurde in ihren Armen immer schwerer und sie wollte sich nicht mehr länger mit der Suche nach Mac aufhalten. Es wäre auch äußerst unklug, einem schmerzgeplagtem Mann ein kaltes Essen vorzusetzen.
Doch als sie dann endlich vor seiner Kabinentüre stand und das Tablett waghalsig in einer Hand balancierte, um mit der anderen anklopfen zu können, schaffte sie es nicht, ihre Hand hochzuheben. Sie stand da wie angewurzelt, mit zit-ternden Händen und schlotternden Knien und grübelte über ihre ungewisse Zukunft nach: Sie brauchte gar nicht so schrecklich nervös zu sein, versuchte sie sich einzureden.
Sollte tatsächlich das Schlimmste passieren, bedeutete das noch lange nicht das Ende der Welt. Sie war erfinderisch genug, um sich irgendwie nach Hause durchzuschlagen ... Allein, wenn es sein mußte ...
Zum Teufel, warum hatte sie denn nicht irgend etwas Nützliches über den Kapitän in Erfahrung bringen können, sie kannte lediglich seinen Namen. Sie hatte keine Ahnung ob er jung oder alt war, nett oder unfreundlich, ob er bei den Leuten beliebt oder nur respektiert war, oder ob sie ihn gar haßten ... Sie hatte einige Kapitäne
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