Malory
kennengelernt, die ausgesprochene Tyrannen waren und denen ihre Macht, die sie über die Mannschaft hatten, gefährlich zu Kopf gestiegen war. Sie hätte sich bei anderen Leuten erkundigen sollen, wenn ihr Mr. Shawn schon nicht hatte weiterhelfen können. Aber jetzt war es zu spät. Nur noch ein paar Minuten ... Vielleicht kommt noch jemand vorbei, der ihr versichert, daß Kapitän Malory der harmloseste Schwachkopf sei, unter dessen Kommando zu segeln man sich nur wünschen konnte. Dann würden ihre Hände nicht mehr so zittern und schwitzen und diese quälenden Gedanken wären ganz umsonst.
Gerade hatte sie beschlossen, sich wieder davonzuschlei-chen ... da ging die Tür auf.
11. Kapitel
Georginas Herz hämmerte wild in ihrer Brust, und im gleichen Takt klapperte das Geschirr auf dem Tablett, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und erwartete, gleich dem Kapitän der Maiden Anne gegenüberzustehen. Aber es war der erste Steuermann, der da im Türrahmen lehnte und seine Haselnußaugen abschätzend über ihren Körper schweifen ließ.
»Du bist vielleicht ein kleiner Knirps. Komisch, daß mir das nicht schon aufgefallen ist, als ich dich angeheuert hab'.«
»Sie haben ja gesessen, als ...« Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken, denn plötzlich nahm er ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte langsam ihren Kopf hin und her. Sie wurde bleich wie die Wand.
»Nich' ein einziger Bartstoppel«, stellte er abfällig fest.
Die Empörung, die sie an Georgies Stelle empfand, löste zumindest den Kloß, der ihr den Hals zuschnürte.
»Ich bin erst zwölf, Sir«, klärte sie ihn auf.
»Ziemlich kurz geraten für dein Alter. Mensch, das Tablett ist ja fast so groß wie du.« Seine rechte Hand umfaßte prü-
fend ihren Oberarm. »Muskeln haben wir wohl auch keine, was?«
»Ich bin noch am Wachsen«, antwortete Georgina zerknirscht und ärgerte sich maßlos über diese unverschämte Untersuchung. Ihre Aufregung hatte sie dabei ganz vergessen. »In sechs Monaten werden Sie mich nicht wiedererkennen«, prophezeite sie ihm, und das entsprach sogar der Wahrheit. Denn bis dahin würde sie ihre Verkleidung nicht mehr brauchen.
»Liegt wohl in der Familie ...«
Wachsam blitzten ihre Augen auf. »Was denn?«
»Die Größe. Was hast du denn gedacht, zum Teufel? Dein Aussehen meinte ich bestimmt nicht, denn dein Bruder und du, ihr seht euch ja überhaupt nicht ähnlich.« Sichtlich erhei-tert fing er dröhnend an zu lachen.
»Ich wüßte gerne, was daran so komisch ist? Wir haben eben verschiedene Mütter.«
»So, so. Irgendwas kam mir doch spanisch vor - dann sind es also die Mütter. Aber das erklärt noch lange nicht, warum du nicht genauso schottisch sprichst wie dein Bruder?«
»Oh, Verzeihung. Ich wußte nicht, daß ich für diesen Job eine Lebensbeichte ablegen muß.«
»Warum so zugeknöpft, Kleiner?«
»Hör schon auf, Connie!« ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen, und es klang wie eine Warnung. »Wir wollen das Kerlchen doch nicht verscheuchen, oder?«
»Wohin?« kicherte der Steuermann, und Georginas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie hatte ja gewußt, warum sie diesen rothaarigen Engländer nicht ausstehen konnte.
»Das Essen wird kalt, Mr. Sharpe«, sagte sie herausfordernd und ließ einen spitzen Unterton anklingen.
»Dann trag es hinein, zum Teufel! Ich bezweifle jedoch stark, daß ihm im Augenblick der Sinn nach Essen steht.«
Hier war sie wieder, diese Nervosiät. Es war also die Stimme des Kapitäns gewesen, die sie unterbrochen hatte. Wie konnte sie auch nur eine Sekunde vergessen, wer sich hinter dieser Tür aufhielt. Sicherlich hatte er alles mitangehört, was sie gesprochen hatten, vor allem ihre patzigen Antworten seinem ersten Offizier gegenüber. Der hatte sie zwar beleidigt, aber ihr Verhalten war trotzdem unentschuldbar. Sie als einfacher Schiffsjunge war Conrad Sharpe entgegengetre-ten, als wäre sie seinesgleichen ... als wäre sie Georgina Anderson und nicht Georgie MacDonell. Noch ein paar solcher Schnitzer, und sie konnte ihre Mütze absetzen und auf ihre Brustbandage verzichten.
Mit einer einladenden Bewegung bedeutete ihr der Steuermann einzutreten, drehte sich um und ließ sie einfach stehen. Ihre Füße wurden schwer wie Blei. Es kostete sie größte Überwindung, auch nur einen Schritt Richtung Kapitänskabine zu machen, doch dann flog sie förmlich durch die Tür und auf den schweren Tudor-Eichentisch zu, der mitten im Raum stand.
Georginas
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