Malory
Kiste krab-beln und blieb draußen. Bei dem Müll roch es viel besser.
Als das Mädchen zurückkam, atmete es tief durch und schauderte. Dann beugte es sich zu Danny hinunter und lächelte sie schwach an. »Armes Ding du. Hattest du au-
ßer ihr keinen?«
»Sie war bei mir, als ich aufgewacht bin. Wir waren beide verletzt. Sie sagte, der Schmerz in meinem Kopf hat meine Erinnerungen weggenommen, aber sie werden eines Tages wiederkommen. Seitdem haben wir uns immer versteckt, damit der Mann, der uns verletzt hat, uns nicht findet.«
»Oje, was für ein Jammer. Ich kann dich mit nach Hause nehmen, schätze ich. Aber ein richtiges Zuhause ist das nicht; nur ein paar Kinder wie du, die keinen mehr haben, der sich um sie kümmert. Wir schlagen uns halt durch, so gut wir können. Alle schaffen ihr Geld zum Leben ran, sogar die Kleinsten, die so sind wie du. Die Jungs als Taschendiebe, die Mädels auch, bis sie alt genug sind, ihr Geld auf’m Rücken zu verdienen. Mach ich auch bald, wenn’s nach dem verdammten Dagger geht.«
Die letzten Worte hatte sie so angewidert hervorge-spien, dass Danny nachfragte: »Ist das eine schlimme Arbeit?«
»Die allerschlimmste, Kleine. Kriegst die Pocken davon und musst jung sterben, aber was kümmert das Dagger, solange die Kohle reinkommt.«
»Dann möchte ich diese Arbeit nicht machen. Ich bleibe hier, vielen Dank.«
»Aber du kannst nicht ...«, begann das Mädchen, verbesserte sich jedoch: »Hör mal, ich hab eine Idee.
Wünschte, ich hätte das auch machen können, aber da kannte ich das noch nicht, was ich jetzt mache. Für mich ist es zu spät, aber für dich nicht – nicht wenn sie denken, du bist ein Junge.«
»Aber ich bin ein Mädchen.«
»Klar, Schätzchen, aber wir können dir ein Paar Hosen beschaffen, dir die Haare kurz schneiden, und ...«
Das Mädchen kicherte. »Wir brauchen ihnen nicht mal sagen, was du bist. Wenn sie dich in Hosen sehen, denken sie gleich, du bist ein Junge. Ist wie ein Spiel, wir tun so als ob. Macht bestimmt Spaß, wirst schon sehen. Und dann kannst du selbst entscheiden, was für eine Arbeit du machen willst, wenn du größer bist, anstatt gesagt zu kriegen, es gibt nur eine Arbeit für dich, weil du ein Mädchen bist. Na, wie hört sich das an? Willst du’s versuchen?«
»Ich glaube nicht, dass ich schon mal ›wir tun so als ob‹ gespielt habe, aber ich will es gern lernen, Madam.«
Das Mädchen verdrehte die Augen. »Du redest viel zu vornehm, Danny. Kannst du nicht anders?«
Danny wollte gerade erneut »Ich glaube nicht« sagen, schüttelte aber stattdessen verlegen den Kopf.
»Dann sag überhaupt nichts, bis du so reden kannst wie ich, klar? Damit du nicht durch deine Sprache auffällst. Keine Angst, ich bring dir das schon bei.«
»Kann Miss Jane mit uns kommen, wenn es ihr besser geht?«
Das Mädchen seufzte. »Sie ist tot. Zu schwer verletzt, so wie’s aussieht. Ist wohl verblutet. Ich hab sie mit dem großen Tuch zugedeckt – nicht weinen. Hast doch jetzt mich; ich kümmer mich um dich.«
K A P I T E L 1
eremy Malory war schon früher in zwielichtigen Spelun-J ken gewesen, aber diese war vermutlich die schlimmste von allen. Kein Wunder, sie lag ja auch am Rand des wohl übelsten Armenviertels von London, das fest in der Hand von Dieben, Halsabschneidern, Freudenmädchen und wilden Horden von Waisenkindern war, die auf der Straße lebten und zweifellos zu Londons nächster Ver-brechergeneration heranwuchsen.
Jeremy wagte sich nicht weiter in diesen Stadtteil hinein, da ihn seine Familie sonst vermutlich nicht Wiedersehen würde. Doch die Schänke stand absichtlich ganz am Rand jener Mördergrube, damit nichts ahnende Gäste dort ein paar Gläser tranken und sich die Taschen ausrauben ließen oder, wenn sie töricht genug waren, ein Zimmer für die Nacht mieteten, wo ihnen dann alles gestohlen wurde, sogar die Kleider.
Jeremy hatte für ein Zimmer bezahlt. Und nicht nur das, er war auch sehr großzügig mit seinem Geld umgegangen, hatte den wenigen Gästen in der Schänke eine Runde ausgegeben und überzeugend den Betrunkenen gespielt. Auf diese Weise hatte er absichtlich den Boden dafür bereitet, dass jemand ausgeraubt wurde –
nämlich er selbst. Doch genau aus diesem Grunde waren er und sein Freund Percy auch hier – um einen Dieb zu schnappen.
Zu Jeremys Erstaunen hielt Percy Adlen ausnahmsweise einmal den Mund. Normalerweise redete er wie ein Buch und war noch dazu ziemlich zerstreut. Dass er auf diesem
Weitere Kostenlose Bücher