Malory
Grund mehr, auf direktem Weg zurückzukehren. Womit ich recht hatte. Und dann bin ich dir gefolgt. Während des Sturms habe ich dich zwar verloren, doch ich hatte das Gefühl, dass Anderson in Anguilla anlegen würde, ehe er sich an die Rettung deines Vaters machen wür-de, es liegt schließlich ganz in der Nähe – und er hat mich nicht enttäuscht. Ich konnte das meiste, was ihr gestern Nacht im Gasthaus geplant habt, belauschen. Während ihr euch dummerweise ausgeruht habt, bin ich direkt hierher gesegelt, um Pierre zu warnen und meine Belohnung einzustreichen.«
»Ich dachte, Sie wären ein anständiger Mensch. Ich habe mich so gefreut, als Sie mich bei den Malorys besucht haben«, sagte Gabrielle mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte. »Aber Sie sind bloß ein hinterlistiger Lump, Avery.«
Leider perlte die Beleidigung an ihm ab. Er lachte sogar kurz auf. Doch dann erstarrte er. Und als er weitersprach, meinte er nicht sie.
»Leg das weg.«
Gabrielle versuchte, den Kopf zu wenden, um zu sehen, mit wem er sprach, doch das war nicht nötig. Avery drehte sie beide so, dass Gabrielle zwischen ihn und Richard geriet, der mit seiner Pistole auf Avery zielte.
Das war genau der richtige Zeitpunkt für einen Fluchtversuch. Gabrielle wappnete sich gegen die Schmerzen und knickte die Beine ein, um sich auf den Boden fallen zu lassen.
Es tat weh, aber es funktionierte nicht. Avery hatte wohl vermutet, dass sie etwas Derartiges vorhatte, denn der Arm um ihren Hals zog sie wieder hoch an seine Brust, und dann drückte er die Spitze des Dolches an ihre Wange.
»Netter Versuch, Gabby«, höhnte er. »Aber mach das bloß nicht noch mal.«
»Du wirst sie nicht töten«, sagte Richard.
»Nein, aber es macht mir nichts aus, sie ein wenig aufzu-schlitzen. Und das ist meine letzte Warnung. Leg das weg!«
Doch noch ehe Richard eine Entscheidung treffen konnte, bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf und fiel zu Boden.
Hinter ihm stand Pierre Lacross.
Kapitel 48
In den drei Jahren, in denen sie ihn nicht gesehen hatte, war Pierre stark gealtert. Sein verfilzter Bart war noch genauso schwarz wie früher, doch sein schulterlanges Haar hatte nun schon viele graue Strähnen. Hauptsächlich aber waren es die tiefen Falten in seinem Gesicht, die ihn so viel älter aussehen ließen. Sein Lebensstil und seine Taten hatten ihre Spuren hinterlassen. Mittlerweile war er sogar extrem dünn, geradezu ausgemergelt. Das ließ Gabrielle hoffen, ihm nicht völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Sie konnte sich gegen ihn wehren.
Vielleicht überwältigte sie ihn sogar. Doch während des Marsches zu seiner Festung, bei dem sie von seinen Männern um-geben waren, unternahm sie besser keinen Versuch in dieser Richtung.
Pierre hatte nichts zu ihr gesagt, ihr nur eine einzige Bemerkung ins Ohr geraunt, die ihr das Blut in den Adern gefrie-ren ließ: »Ich habe wunderbare Pläne mit dir, chérie.«
Sie durfte nicht darüber nachdenken. Wenn sie das tat, würde die Angst sie so sehr lähmen, dass sie sich auch gleich zum Sterben hinlegen konnte. Stattdessen prägte Gabrielle sich auf dem Schiff und unterwegs jede Kleinigkeit ein. So et-wa, dass die Schurken offenbar alle Männer, die noch lebten, einschließlich Richard und Timothy, in den Frachtraum sperr-ten, um sich später mit ihnen zu befassen. Ebenso das undurchdringliche Dickicht in der Mitte der Insel, das sie fast unpassierbar machte. Oder die versteckte Tür in der rückwärtigen Mauer der Festung, die nach ihrer Ankunft leichtsinni-gerweise unverschlossen blieb.
Pierres Männer waren so siegestrunken, dass sie alle Vorsicht vergaßen. Gabrielle zählte, wie viele Kerzen es in dem kurzen Gang gab, der von diesem Eingang zur Haupthalle führte. Die Tür, durch die sie die Halle betraten, war ebenfalls versteckt, und zwar hinter einem leicht beweglichen Schrank, der, wenn er an seinem Platz stand, nicht ahnen ließ, das er einen Geheimgang verdeckte.
Dass es den Schurken egal war, ob sie all das wusste, war sehr aufschlussreich. Offenbar rechneten Pierre und seine Männer nicht damit, dass sie diese Insel wieder verließ.
Als Gabrielle sich in der riesigen, barackenartigen Halle umsah, bemerkte sie zwei Fluchtwege. Einer führte durch ei-ne breite, offen stehende Tür hinaus auf den großen Hof, der von hohen Mauern umschlossen war. In der Beziehung stimmte Bixleys Zeichnung. Zu schade, dass er nichts von der Geheimtür gewusst hatte.
Der andere Fluchtweg führte über
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