Malory
Ein muskelstrotzender Seemann versperrte James den Weg zur Tür.
Anthony trat seufzend neben seinen Bruder. »Du hast wohl keine Lust, sie abzustellen und diese Sache selbst zu erledigen, James?«
»Ich bin nicht gerade erpicht darauf.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Halt du dich da raus, Freundchen!« warnte der Seemann Anthony. »Er hat kein Recht nich', hier reinzustol-zieren und uns gleich zwei von unsern Weibern wegzu-schnappen.«
»Zwei?
Gehört
dieses
kleine
Gassenmädchen
etwa
dir?« Anthony betrachtete das Bündel, das die Wollmüt-ze hochgeschoben hatte und ihm mörderische Blicke zuwarf. »Gehörst du ihm, Schätzlein?«
Sie war klug genug, heftig den Kopf zu schütteln. Der Seemann war zum Glück ein häßlicher roter Kerl, sonst wäre ihre Antwort vielleicht anders ausgefallen, vor lauter Wut über ihre demütigende Situation. Anthony hätte ihr nicht einmal einen Vorwurf daraus machen können, denn James hielt sie fester als unbedingt notwendig, und es war auch nicht jedermanns Sache, wie ein Mehlsack in der Luft zu hängen.
»Ich
glaube,
damit
wäre
die
Sache wohl
erledigt.«
Es
war
eine
reine
Festellung,
denn
Anthony
hatte
jetzt endgültig genug, um so mehr, als er wußte, daß nur er an diesem Schlamassel schuld war. »Wenn du jetzt
vielleicht
die
Güte
hättest,
den
Weg
freizuma-
chen.«
Der Seemann rührte sich nicht von der Stelle. »Er bringt sie hier nicht raus!«
»Ach,
verdammter
Mist!«
murmelte
Anthony
ver-
drossen, bevor er dem Kerl einen Kinnhaken versetzte.
Der Seemann landete ein ganzes Stück entfernt auf dem Boden. Sein Kumpel erhob sich schwerfällig, war aber bei weitem nicht schnell genug. Ein Treffer warf ihn auf seinen Stuhl zurück, und er griff sich an die blutende Nase.
Anthony drehte sich langsam im Kreis, eine Braue fragend hochgezogen. »Noch jemand?«
MacDonell
gratulierte
sich
grinsend
zu
seinem
Ent-
schluß, den Engländer nicht anzugreifen. Kein Mann im Raum verspürte auch nur die geringste Lust, die Herausforderung anzunehmen. Alle hatten erkannt, daß sie es mit einem Meisterboxer zu tun hatten.
»Das hast du sehr ordentlich gemacht, lieber Junge«, beglückwünschte
ihn
James.
»Können
wir
jetzt
ge-
hen?«
Anthony verbeugte sich tief und richtete sich grinsend wieder auf. »Bitte nach dir, Bruderherz.«
Draußen stellte James die Kleine auf die Füße. Im Schein der Lampe über der Tür konnte sie ihn zum erstenmal deutlich sehen, und sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie ihn kräftig ins Schienbein trat und die Straße hinabrannte. Er rannte fluchend hinter ihr her, sah aber schon nach wenigen Metern ein, daß es sinnlos war, und machte kehrt.
Er fluchte wieder, als er feststellen mußte, daß auch MacDonell verschwunden war. »Verdammt, wo ist denn der Schotte abgeblieben?«
Anthony lachte so laut, daß er die Frage nicht verstanden hatte. »Was ist?«
James rang sich mühsam ein Lächeln ab. »Der Schotte
- er ist weg!«
Anthony drehte sich suchend um. »Nun, Undank ist eben der Welt Lohn, alter Junge. Schade, ich wollte ihn doch noch fragen, warum sie sich umgedreht haben, als du ›Cameron‹ gerufen hast.«
»Zum Teufel damit!« rief James. »Wie soll ich sie denn wiederfinden, wenn ich nicht weiß, wer sie ist?«
»Sie
wiederfinden?«
Anthony
kicherte
schon
wieder.
»Mein Gott, was bist du nur für ein schrecklicher Viel-fraß, Bruder! Was willst du denn mit einem Weib, das dich tätlich angreift, wenn ein anderes die Minuten bis zu deiner Rückkehr zählt?«
»Die Kleine hat mir gefallen«, gab James zu, fuhr aber achselzuckend fort: »Aber du hast vermutlich recht. Die Kellnerin tut's auch.«
Trotzdem
betrachtete
er
noch
einmal
bedauernd
die
leere dunkle Straße, bevor er Anthony zur Kutsche folgte.
Kapitel 25
Roslynn
stand
im
Empfangszimmer
am
Fenster,
eine
Wange ans kühle Glas gepreßt, die Hände in die blauen Vorhänge gekrallt. Sie stand nun schon eine halbe Stunde so da, seit sie das Eßzimmer verlassen hatte, nach einem ungemütlichen Abendessen mit Jeremy und seinem Vetter Derek, der vorbeigekommen war, um ihn zum Ausgehen abzuholen.
Zumindest hatte Derek Malorys Besuch Roslynn etwas abgelenkt. Der älteste Sohn des Marquis war ein hübscher junger Mann, etwa in ihrem eigenen Alter, mit wi-derspenstigem blondem
Haar
und
braun-grünen
Augen.
Er machte in seinem Abendanzug eine blendende Figur, und Roslynn stellte nach kürzester Zeit
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