Malory
fest, daß er dabei war, in die Fußstapfen seiner Onkel zu treten - ein weiterer Weiberheld in einer Familie, der es ohnehin nicht daran mangelte. Aber Derek hatte zugleich noch etwas Jungenhaftes an sich, und dadurch wirkte er harmlos und sehr charmant.
Auf die Neuigkeit von der Heirat seines Onkels reagierte er wie Jeremy - zuerst ungläubig, dann aber begeistert. Er war auch der erste, der sie Tante Roslynn nannte, ganz ernsthaft, was ihr zunächst einen gelinden Schock versetzte. Sie war jetzt wirklich die Tante einer ganzen Schar von Nichten und Neffen. Durch ihre Eheschließung hatte sie plötzlich eine große Familie, eine sehr herzliche und liebevolle Familie, wie Jeremy ihr versichert hatte.
Doch nun waren Jeremy und Derek weggefahren, und Roslynn blieb wieder ihren trüben Gedanken überlassen.
Sie merkte kaum, wie die Zeit verging, während sie am Fenster stand und auf den Verkehr auf dem Piccadilly hinausstarrte.
Einerseits machte sie sich schreckliche Sorgen. Etwas mußte Anthony zugestoßen sein. Er war verletzt und konnte ihr keine Nachricht zukommen lassen. Das war die einzige Erklärung dafür, daß sie ihn den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen und auch nichts von ihm ge-hört hatte. Andererseits war sie während des stunden-langen Wartens aber auch immer wütender geworden, besonders, als Derek gekommen war und sie ihm Anthonys Abwesenheit nicht erklären konnte. Er ging einfach seinen üblichen Beschäftigungen nach, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, daß er jetzt eine Ehefrau hatte, die sich vielleicht Sorgen um ihn machte.
Diese widerstreitenden Gefühle hatten ihr den Appetit geraubt, als das Abendessen serviert wurde, das sie in der Hoffnung, Anthony würde doch noch kommen, um mehr als eine Stunde verschoben hatte. Und jetzt wuchs ihre Angst immer mehr, schnürte ihr fast die Kehle zu.
Verdammt, wo blieb er nur? Dies war erst der zweite Tag ihrer Ehe. Hatte er das total vergessen? Sie hätten diesen
Tag
zusammen
verbringen
sollen,
um
einander
besser kennenzulernen.
Endlich hielt eine Kutsche vor dem Haus. Roslynn rannte aus dem Zimmer und winkte ungeduldig ab, als Dobson zur Tür gehen wollte. Sie riß sie selbst auf, als Anthony noch ein ganzes Stück entfernt war, und musterte angsterfüllt seine hohe Gestalt. Er schien unverletzt zu sein. Ihm war nichts zugestoßen. Sie wollte sich ihm in die Arme werfen, aber gleichzeitig hätte sie ihn ohrfeigen mögen. Statt dessen stand sie mit ineinander verkrampften Händen da, um weder dem einen noch dem anderen Verlangen nachzugeben.
Als Anthony sie in ihrem hellgrünen Kleid mit zartem weißem Spitzenbesatz in der Tür stehen sah, begrüßte er sie mit einem strahlenden Lächeln. »Mein Gott, du bist wirklich
eine
Augenweide
für
einen
müden
Kämpfer,
Liebling! Ich kann dir gar nicht sagen, was für einen scheußlichen Tag ich hinter mir habe.«
Roslynn trat nicht beiseite, um ihn ins Haus zu lassen, sondern blieb auf der Schwelle stehen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
Ihr schottischer Dialekt verriet ihm, daß dicke Luft herrschte. Er trat einen Schritt zurück, um sie besser sehen zu können, und bemerkte erst jetzt die zusammen-gepreßten
Lippen
und
das
eigensinnig
vorgeschobene
Kinn.
»Ist etwas, meine Liebe?«
»Weißt du, wie spät es ist, Mann?«
»Ah, das ist es also.« Er kicherte. »Hast du mich sehr vermißt, Liebste?«
»Dich vermißt?« fauchte sie. »Du eingebildeter Hammel!
Von mir aus kannst du tagelang wegbleiben, wenn du willst. Aber die elementare Höflichkeit verlangt immerhin, daß man Bescheid sagt, wann man nach Hause zu kommen gedenkt.«
»Du hast völlig recht«, nahm er ihr den Wind aus den Segeln. »Und ich verspreche dir, daran zu denken, wenn ich nächstes Mal versuche, deinen lieben Vetter zu finden.«
»Geordie? Aber - wozu denn?«
»Um ihm die freudige Nachricht von unserer Hochzeit zu überbringen, warum denn sonst? Oder hast du noch nicht daran gedacht, daß er nach wie vor eine Gefahr für dich darstellt, solange er nichts von deinem neuen Familienstand weiß?«
Roslynn errötete vor Scham. Er kam todmüde nach Hause, nur weil er ihr helfen wollte, und sie fiel wie eine Furie über ihn her!
»Entschuldige bitte, Anthony.«
Ihre zerknirschte Miene war unwiderstehlich. Er zog sie an sich, bis ihr Kopf auf seiner Schulter lag. »Dummes Mädchen«, neckte er sie zärtlich. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich finde es schön, daß jemand sich
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