Mama Mutig - Virnich, B: Mama Mutig
Sie tat dies nicht nur, weil sie die Frau des Chiefs war, sondern auch ein überaus großzügiger und sozialer Mensch. Sie schickte nie jemanden fort, der an unsere Tür klopfte. Manchmal verschenkte sie sogar unsere letzte Milch, und mein kleiner Bruder und ich weinten. Es sei unsere Pflicht, mit anderen zu teilen, brachte sie uns bei und sang uns ein Lied, sodass wir auf andere Gedanken kamen. Sie hat mir beigebracht, mich um das Wohl anderer zu sorgen.
Von Mama Meroni, einer jungen Frau in unserem Dorf, habe ich die alten Samburu-Kinderlieder gelernt. Keiner kannte sie wie Mama Meroni, die sich grazil wie eine Gazelle bewegte. Ich erinnere mich noch genau, wie sie auf einem Holzschemel im Schatten vor ihrer Hütte mit ihrer Tochter hockte und geduldig Perlen auffädelte. Wenn sie anfing zu summen, zog sie uns Kinder magisch in den Bann. Wir hörten auf zu spielen und versammelten uns eng aneinandergeschmiegt vor ihrer Hütte. Mama Meroni sang die alten Melodien in einer kristallklaren Stimme und wiegte sich dabei im Rhythmus der Musik.
Wie gebannt schaute ich dabei auf ihre Lippen, ihre samtweiche Haut und ihr ebenmäßiges Gesicht. Über ihrem eng
anliegenden Perlenstirnband kräuselte sich kurzes, schwarzes Haar. Wie alle verheirateten Samburu-Frauen trug sie ein wuchtiges Halsband aus Giraffenhaaren und Leder, das sogenannte Mporro, einfache Kreolenohrringe aus Metall und ein schlangenförmiges Armband aus Kupferdraht um den Oberarm. Wenn die hochgewachsene Samburu-Frau mich in ihre Arme schloss, saugte ich ihren holzigen Geruch ein und ließ mich neben ihr nieder. Sofort stimmte sie dann ein Lied über die hübschen Samburu-Mädchen an, die tapfer und erhobenen Hauptes zum Fluss schreiten, vorbei an Löwen und heulenden Hyänen.
Lachend zeigte sie uns auch, wie man Ziegen melkt. Mit ihrer warmherzigen Art wirkte sie beruhigend auf die Tiere, sodass selbst die störrischsten unter ihnen stillhielten. Tiere und auch wir Kinder waren gerne in ihrer Nähe. Mama Meroni strahlte Würde und Geborgenheit aus. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich völlig zufrieden und stark. Mama Meroni machte mir auch vor, wie ich meine Shuka binden musste. Ich wollte es genauso schön machen wie sie. Mit ihren braunen Augen ermunterte sie mich liebevoll. Selbst das Holzschleppen war mit Mama Meroni keine große Anstrengung. Wenn wir dann erschöpft ins unser Dorf zurückgekehrt waren, lehrte sie mich manchmal noch, wie man aus Sisal Dachmatten webt. Die Stunden mit ihr vergingen wie im Flug. Selbst abends lief ich oft noch zu ihrer Hütte, setzte mich zu ihr und wir beobachteten das rege Treiben der laut schnatternden Webervögel. Wie Pfeile schnellten die gelben Vögel mit Federn im Schnabel durch die reine Luft und bauten kunstvoll ihre Nester in den Akazien. Manchmal schwatzten wir dann auch noch und sie erzählte mir eine Geschichte über die tapferen Samburu-Krieger. Neben Mama Meroni vergaß ich die Zeit.
Doch eines Tages nahm alles eine fürchterliche Wende. Wir Kinder hatten mit Mama Meroni den ganzen Nachmittag in der prallen Sonne Holz für das Dorf gesucht. Normalerweise
waren wir immer nur bis zum Fluss gegangen, doch heute mussten wir bis in die Berge hoch. Vor lauter Anstrengung schwitzten wir und wechselten uns beim Tragen des schweren Holzbündels ab. Da es schon später Nachmittag war und die Sonne langsam über dem Gebirge verschwand, eilten wir ins Dorf zurück. Wie so oft klebte eine ganz Horde Kinder Mama Meroni an den Fersen. Ausgelassen schmetterten wir das Lied vom Adler, der in schwindelerregender Höhe über den Menschen schwebt. Doch kaum waren wir ins Dorf zurückgekehrt und hatten das Dornengebüsch hinter uns zugezogen, kam uns der wütende Ehemann von Mama Meroni entgegen. Aufgebracht schrie er sie an. Schlagartig verstummte unser Gesang und das Gemurmel der Frauen, die über ihren Feuerstellen das Abendessen zubereiteten. Wir Kinder und die Frauen blickten entsetzt zu dem hageren Nomaden. Aus Angst, ihn noch wütender zu machen, versuchte ich, die Jüngeren zu beschwichtigen. Doch die Kleinsten unter uns Kindern fingen an zu weinen.
Bevor ich überhaupt verstand, was los war, schlug der grimmige alte Mann hemmungslos mit seinen knöchrigen Händen auf Mama Meroni ein. Wankend ging die magere junge Frau zu Boden. Schnaubend trat der Ehemann sie noch ein paarmal in die Magenkuhle. »Wo hast du dich herumgetrieben? Und mit wem?«, schrie er außer sich vor Zorn. »Ich war mit den Kindern unterwegs.
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