Man lebt nur ewig
voranstürzte, erkannte ich Xia Ge, die sich in den Armen ihres Mannes wand. »Ge!«, rief ich. »Was ist passiert?«
Sie starrte mich wild an, schrie und fiel in Ohnmacht. Da fiel mir ein, dass ich ja immer noch aussah wie Pengfei.
Ich beugte mich möglichst nahe zu Shao. »Hey, ich bin’s, Lucille Robinson. Was ist passiert?«
Der arme Shao sah selbst halbtot aus, doch er schaffte es, mir zu erklären: »Chien-Lung entführen Lai.«
»Wie?«
»Lai in Wagen festgeschnallt. Ge sitzt in erster Reihe, sieht Show. Als Evakuierung anfängt, sie geht durch Aus- gang der Akrobaten. Da Chien-Lung sie niederschlägt und Lai mitnimmt.«
»Wohin ist er gelaufen?«
Shao zeigte Richtung Hafen.
Ich drückte Shaos Arm. »Ich folge ihm, Shao.« Ich wünschte, ich könnte ihm versprechen, dass ich ihm sein Baby zurückbringen würde. Doch wir wussten beide, dass die Welt, in der wir lebten, nicht so funktionierte.
Ich machte mich an die Verfolgung von Lung. »Cole, ich will, dass du auch nach ihm Ausschau hältst«, befahl ich ihm. »Keine Konfrontation, nur suchen.«
»Bin schon dabei!«, erwiderte er.
Vayl sagte: »Ich bin gerade in dem Wohnmobil der Ak- robaten und suche nach etwas, womit ich es markieren kann, aber ich bin gleich bei dir.«
»Versuch es mit Senf«, schlug ich vor.
»Ahh.«
»Es sollte nicht allzu schwierig sein, den Kerl zu fin- den«, erklärte ich allen. »Wie viele Chinesen in goldenen Gewändern, die einen Kinderwagen vor sich herschieben, sieht man schon auf den Straßen?«
»Keine«, erwiderte Cole. »Aber die Leute kommen ge- rade nach und nach hier am Parkplatz an. Ich habe auch eine ganz gute Sicht auf den Weg hinter ihnen, und das Problem ist, ich sehe hier ebenfalls keinen.«
Was zur Hölle? Er sollte auffallen wie der Weihnachts- mann an einem FKK-Strand!
»Vielleicht hat er die Fähigkeit, sich wie ein Chamäleon zu tarnen«, schlug Vayl vor.
Bergmans Stimme ertönte angespannt und zittrig in un- seren Empfängern: »Hört ihr mich? Als wir die Rüstung an verschiedenen Tieren ausprobiert haben, konnten eini- ge von ihnen tatsächlich mit ihrer Umgebung verschmel- zen. Und das waren Säugetiere, deren Fell nicht mit den Jahreszeiten die Farbe wechselt. Es könnte sein, dass er die Gewänder abgelegt hat und die Rüstung selbst seine Tarnung geworden ist.«
Mist. Ein Teil von mir wollte sich einfach zu den ent- sorgten Bonbonpapieren, Strohhalmen, Popcornbrocken und Kaugummis auf den dreckigen Weg setzen und auf- geben. Da denkt man, man hätte diesen höllischen Berg endlich fast erklommen. Die Königin des Schreckens ist tot. Die Unschuldigen sind gerettet. Der Weltkrieg abge- wendet. Und dann macht sich so ein psychotischer Möch- tegerndrache mit dem zweitsüßesten Baby der Welt aus dem Staub, und er könnte auch noch unsichtbar sein. Was zur Hölle soll das?
Doch ich blieb in Bewegung, musterte weiter Gesichter,
folgte weiter dem Weg. Dann hörte ich es. Nicht wirklich deutlich, aber auch nicht sehr weit entfernt.
Ich konnte nicht rennen. Nicht, ohne eine Massenpa- nik auszulösen. Aber ich beschleunigte meine Schritte, soweit es möglich war. Bog auf den Weg zum Hafen ein und blieb stehen, um zu horchen. Über dem Gewirr aus ängstlichen Stimmen, weinenden Kindern und Polizisten, die strenge Anweisungen brüllten, war das Geschrei eines Babys zu hören.
»Jungs, ich habe genug Zeit mit E. J. verbracht, um zu wissen, dass das Kind, das ich gerade höre, weder hungrig noch nass oder müde ist. Das ist ein verängstigtes Baby, das zu seiner Mami will.«
Vayl sagte nur: »Ich bin auf dem Weg, aber warte nicht auf mich.«
»Cole?«
»Ich sehe dich.«
»Gut. Behalt mich im Blickfeld. Sei auf alles vorberei- tet.«
Ich konzentrierte mich auf die Quelle des Geräuschs. Dreißig Sekunden später hatte ich Lai gefunden, der so heftig schrie, dass seine kleinen runden Wangen knallrot und mit Tränen verschmiert waren. Der Kinderwagen wurde von jemandem geschoben, der Lungs Gesichts- züge trug. Und das war alles. Er hatte tatsächlich sein Gewand abgelegt. Die Rüstung war zu einem schlichten schwarzen Anzug mutiert, dessen lange Jackenaufschlä- ge die Hände verbargen. Er hatte sogar passende Schuhe und einen Hut. Bergman wäre so stolz , dachte ich ver- bittert.
Ich versuchte mich genau so zu verhalten, wie Pengfei es getan hätte, marschierte zu Lung und entriss ihm den Kinderwagen. Es war schwierig, die für die Übersetzung
nötige Entfernung beizubehalten, da die
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