Man lebt nur ewig
Teller weg. Und hinter ihnen wiederum wurde die Zeltklappe aufgerissen. Preston kam herein.
»Cassandra!«, rief er. »Ich hatte gehofft, dass Sie noch hier sind.« Sein Gesicht, das offen und freundlich gewirkt hatte, verschloss sich, als er die ganze Szene in sich auf- nahm. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, kehrte sein Blick zu ihr zurück, und seine rechte Hand wanderte langsam auf seinen Rücken. »Ist alles in Ordnung?«
Ich konnte sehen, wie die Angst langsam ihre Augen weitete und sie erstarrt stehen blieb. Sie versuchte zu ni- cken, doch stattdessen ruckte ihr Kopf zur Seite. Eine Bewegung unter unseren Gästen lenkte meine Aufmerk- samkeit von ihr ab.
Li hatte sich die Schnecke in den Mund geschoben. Mit einem seltsamen Gefühl der Entrückung beobach- tete ich, so als wäre ich dreihundert Meilen weit entfernt und würde durch ein Teleskop schauen, wie er schluck- te. Und in meinem Kopf begann ein Wort seine Runden zu drehen …
Un-fass-bar.
Pengfei zog stärker an Lungs Gewand und versuchte, seine Konzentration zu brechen und ihn dazu zu bringen, sie anzusehen. Doch der Drache war auf sein Opfer fi- xiert.
Ohne Vorwarnung sprang er auf die Bühne und kam so schnell auf Cassandra zu, dass ihr nicht einmal genug Zeit blieb zu schreien. Er hatte gerade den Tisch erreicht, als Preston streng rief: »Halt, oder ich schieße!«
Ich warf ihm einen schnellen Blick zu. Er hatte seine
45er Kimber gezogen, alles klar, und wenn wir Guten nicht unten blieben, konnten wir uns eine Bleiladung von ihm einfangen.
»Preston!«, kreischte Cassandra.
Lung hatte sich zu dem SWAT-Mann umgedreht, sein Mund im letzten Stadium der Verwandlung zur Schnauze. Da ich wusste, was als Nächstes kommen würde, rannte ich auf Preston zu und riss ihn von den Beinen, sodass wir beide zu Boden gingen, als Lung eine enorme Stichflam- me losließ. Der Hitzestrahl glitt über uns hinweg, unan- genehm, aber nicht unerträglich.
Ich riss meinen Rock hoch und schnappte mir meine 38er. Für einen tödlichen Schuss müsste ich verdammt nah herankommen, aber es war besser als gar nichts. Ich drehte den Kopf und versuchte zu sehen, ob Lung eine weitere Dosis losließ, doch der hatte sich wieder Cassan- dra zugewandt. Bloß, dass die verschwunden war.
Als er sich, kurzzeitig irritiert, erhob, erreichten Vayl und Pengfei die Bühne. Zeitgleich hatten Bergman und Cole sich die Feuerlöscher aus der hintersten Ecke des Zelts geschnappt und liefen Richtung Zeltmitte, wo einige Bänke in Flammen standen.
Rauch zog durch das Zelt, und meine Augen brannten. Ich sah mich nach Li um und erwischte ihn dabei, wie er durch den Hinterausgang hetzte. Anscheinend hatte er für Feuer und blutrünstige Drachen nichts übrig.
Auf der Bühne erreichte Vayl Lung in dem Moment, als dieser mit einem spektakulären Krachen den Tisch um- stieß, unter dem die zusammengekauerte Cassandra zum Vorschein kam. Doch sie hatte sich mit einem Messer be- waffnet, bevor sie sich in ihr Versteck zurückgezogen hat- te, das sie Lung nun mit verzweifelter Wucht in den Schritt rammte.
Als ich die Treppe zur Bühne erklomm, fegte Vayls Kraft durch den Raum und ließ die Temperatur drama- tisch sinken. Auf jeder verfügbaren Oberfläche bildete sich Reif. Auch wenn ich als Empfindsame bis zu einem gewissen Grad gegen Vampirkräfte immun war, fühlte ich mich trotzdem, als wäre ich eine Stunde lang ohne Mantel beim Eisfischen gewesen.
Die Rückseite von Lungs Gewand riss auf und gewähr- te mir einen fantastischen Blick auf seine abschießbaren Stacheln. Da er direkt hinter Lung stand, befürchtete ich, Vayl könnte eine Ladung in die Brust kriegen, doch rund um den Ansatz der Stacheln hatte sich Eis gebildet und sorgte dafür, dass sie nicht abgefeuert werden konnten.
Cassandras Messer drang nicht durch die Rüstung, doch allein der harte Aufprall ließ Lung schmerzerfüllt aufbrüllen. Gleichzeitig schlang Vayl den Arm um Lungs Hals und zog ihn rückwärts. Ich glaubte nicht, dass er einen besonderen Plan hatte, er wollte ihn nur von Cas- sandra wegbringen.
Eine Stichflamme aus Lungs Schnauze setzte das Zelt- dach in Brand. Die Flammen fraßen sich in die Plane und breiteten sich züngelnd in alle Richtungen aus. Ich hörte Preston in sein Telefon schreien, während er näher kam. Er bewegte sich, als sei eines seiner Gelenke eingefroren, und rief nach Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen. Dann stieg er neben mir auf die Bühne und half mir, Cassandra auf die Füße zu
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