Man lebt nur ewig
konnte.
»Bereit?«, fragte ich fröhlich, als wollten wir zu einem Kirchenpicknick mit Tom Sawyer und Becky Thatcher aufbrechen.
Vayl nickte, ließ Cassandra los und bot mir seinen Arm.
Wir gingen zurück auf die Bühne. Lung hockte nun in der Stellung auf der Bank, in der wir ihn auch auf der Jacht beobachtet hatten. Seine Begleiter saßen wieder neben ihm. Vayl führte mich die Bühnentreppe hinunter, damit ich sie begrüßen konnte.
»Darf ich Ihnen Lucille Robinson vorstellen?«, fragte Vayl.
Lung neigte den Kopf. »Sie sind die personifizierte An mut und Schönheit. Mein Name ist Chien-Lung«, sagte er. Klar, nette Worte. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache. Sie erinnerten mich an Dave und seine Kumpel in dem Sommer, als sie alle zehn Zentimeter ge- wachsen waren. Jedes Mal, wenn sie in die Küche ge- stürmt waren und in den Ofen geschaut hatten, hatten sie eine aufregende neue Entdeckung gemacht. »Wow! Süße Brötchen! Alles klar! «
Das Mädchen in mir wollte Lung eine Ohrfeige verpas- sen und schreien: »Hör auf, mir auf meine süßen Bröt- chen zu starren, du Spanner!« Nein, normalerweise macht es mir nichts aus. Mir ist klar, dass Hetero-Jungs auf Bu- sen und Hintern starren. Aber normalerweise gehen sie dabei sehr diskret vor, und das weiß ich zu schätzen. Die- ser Typ - weniger .
Sag mir nicht, es hätte dich überrascht, dass dieser Typ ein ekliger kleiner Perverser ist, Jasmine , rügte ich mich selbst. Und jetzt vergiss die privaten Reaktionen und benimm dich wie ein Profi!
Der neue Vampir, der die Show ebenfalls genossen hat- te, zeigte wesentlich bessere Manieren. Allerdings schien er von dem falschen Rubin fasziniert zu sein, der in mei- nem Nabel steckte. Er sprang auf, um mich zu begrüßen, und streckte die Hand aus, um meine zu packen.
»Das ist mein Assistent, Li Ruolan«, sagte Lung, als ich
die Hand des neuen Vampirs ergriff und murmelte: »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er war in einem Westernout- fit gekommen: schicke braune Hosen und ein kurzärme- liges blaues Hemd mit einer blau-grau gestreiften Hals- kordel.
Lung fuhr fort: »Und dies ist meine Adoptivtochter, Pengfei Yan.«
Ja, sicher. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte ich und gab mir alle Mühe, freundlich zu bleiben. Mit dem langen, schlichten Zopf wirkte sie nor- mal genug. Eine hochbegabte Schneiderin hatte die Är- mel ihrer blauen Seidenbluse mit filigranen weißen Blüten bestickt. Die schwarze Seidenhose passte perfekt zu den flachen schwarzen Schuhen. Sogar ihre schwingenden schwarzen Perlenohrringe gefielen mir. Nein, ihr äußeres Erscheinungsbild störte mich in keiner Weise.
Doch ich hatte am Abend zuvor gesehen, wie sie min- destens sechs Menschen getötet hatte. Das war für jeman- den, der Umgang mit einem Monster wie Chien-Lung hatte, wahrscheinlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und nichts davon zeigte sich in dem glatten, blassen Gesicht. In diesen klaren Obsidianaugen. Außerdem war da etwas an ihrem Körpergeruch; sie verströmte ein Odeur, das mir als Empfindsamer signalisierte, dass ich es mit einem Vampir zu tun hatte, und es drehte mir den Magen um. Pengfei umgab ein Aroma von Brandopfer, das in mir die Bilder von Massengräbern wachrief.
Bergman saß immer noch auf seinem Platz weiter hin- ten im Zelt, also signalisierte ich ihm, dass ich bereit war. Vayl nahm auf der anderen Seite des Ganges auf gleicher Höhe mit Lung Platz, dort, wo noch vor wenigen Minu- ten die Familie Xia gesessen hatte. Als die Musik einsetz- te, bewegte ich mich in Richtung Bühne und begann zu
tanzen. Die Wirkung der Schmerzmittel, die Dr. Darryl mit verschrieben hatte, ließ nach, als das Stück ungefähr zur Hälfte vorbei war, und als ich fertig war, pochten mei- ne Hände, als wären die Knochen in der Mitte durch- gesägt worden und würden nun aneinanderschaben wie Käse auf einer Reibe. Ich schaffte es, die Position zu hal- ten, aber verdammt noch mal, es tat weh! Obwohl ich es gut verbarg, schien Pengfei Yan etwas zu ahnen. Und die kranke kleine Schlampe schien es zu genießen.
»Wundervoll«, sagte sie, als ich fertig war. Sie und Li Ruolan klatschten begeistert. »Könnten Sie uns noch ei- nen zeigen?«
Jaz hätte die 38er gezogen und ihr das schmierige Grin- sen aus dem Gesicht geschossen. Doch nun hatte Lucille Robinson das Kommando übernommen, und sie lächelte Pengfei breit an und sagte: »Selbstverständlich«, bevor Gewalt ausbrechen konnte.
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