Man lebt nur ewig
Indianapolis.«
Er nickte. »Gute Wahl.«
»Danke.«
Ich ging ins Bad. Nicht nur eine Notwendigkeit, son- dern auch eine gute Gelegenheit, um mir das sichere Tele- fon aus dem Schlafzimmer zu schnappen. Als ich die Tür öffnete, setzte mein Herz kurz aus, doch ich ignorierte es. Was ich jedoch nicht verdrängen konnte, war die Er- kenntnis, dass ich den letzten Trip ins Gaga-Land ver- schlafen hatte. Kein Versuch, mir die Birne wegzuschie- ßen. Kein Gang auf eine stark befahrene Straße, kein Sprung aus einem Fenster. Überhaupt keine Träume. Nur süße, tiefe Stille, wie Vayl sie jeden Tag genoss.
Als ich das Telefon von der Kommode nahm, musterte ich nachdenklich das schwarze Zelt, das wie eine riesige, aufgequollene Fledermaus über dem Bett hing. Vayl be- deutete mir etwas. Mehr, als er sollte. Wesentlich mehr, als mir lieb war. Doch wollte ich so sein wie er? Mich nach etwas verzehren, dass ich vor über zweihundert Jahren verloren hatte? Das erschien mir irgendwie falsch, ver- kümmert.
Aber machte ich nicht genau das Gleiche? Klammerte ich mich nicht an Matt, als glaubte ich, ihn irgendwann in der Obstabteilung bei Aldi wiederzufinden, während er
mit diesem spitzbübischen Gesichtsausdruck, der mich immer zum Lachen gebracht hatte, die Grapefruits betas- tete? So gesehen ergab meine Wut auf ihn einen Sinn. Als würde ich mich betrogen fühlen, weil er gegangen war. Und in einer logischen Fortsetzung dieses Gedankens war ich ihm treu, indem ich an einem Punkt verharrte.
Das Summen begann tief in meinem Schädel und wurde so laut, dass ich mir mit der Hand gegen die Schläfe schlug. Nicht jetzt. Ich muss noch einiges erledigen! Doch Raoul folgte seinem ganz eigenen Zeitplan, und ich hatte irgendwann gelernt, dass ich besser zuhörte, wenn er re- den wollte. Also schloss ich die Augen, bevor er nach meiner Sehfähigkeit greifen konnte, um sich meiner Auf- merksamkeit zu versichern, und fragte: »Sie haben ge- läutet?«
Die gewaltige Stimme dröhnte in meinem Schädel: DREH ES NOCH EINMAL UM.
Aus irgendeinem Grund drehte ich das Telefon in mei- ner Hand, sodass der Hörer nach außen zeigen würde, wenn ich es ans Ohr hob. Nein, so funktionierte das nicht. Dreh es noch einmal um.
Matt hatte mich verlassen.
DREH ES UM.
Und ich hatte ihn verlassen.
Auf dem Höhepunkt unserer Liebe hatten wir uns durch den Tod trennen lassen. Ein Teil von mir hatte nie geglaubt, dass das passieren könnte. Eigentlich hatte ich uns beide sogar in gewisser Weise dafür verachtet, dass wir das zugelassen hatten. Ich war wütend gewesen, weil er gegangen war. Und ich hatte mich selbst dafür gehasst, dass ich geblieben war.
UND JETZT DENKE NACH.
»Was?«
DENKE NACH!
Heilige Scheiße, Raoul, nichts andere habe ich die ganze Zeit getan! Über Matt nachgedacht. Mehr, als mir lieb war. Nur wenige hatten ihn gekannt. Doch sie hatten ihn alle gemocht. Besonders Albert. Ich hob das Telefon ans Ohr und war nicht sonderlich überrascht darüber, dass ich bereits seine Nummer gewählt hatte.
»Ja?«
»Albert?«
»Was ist los? Ist alles in Ordnung?«
»Ich musste heute an Matt denken.«
»Ich auch.«
»Wirklich?«
»Was für ein Pokerface. Habe ich dir jemals erzählt, wie er mir mit einem Bluff einen Zwanzig-Dollar-Pott abge- nommen hat? Mit nur einem König! Und ich saß da mit einem Paar Zehnen!«
»Wahnsinn.«
»Aber weißt du, warum ich ihn trotzdem gemocht habe?«
»Eigentlich nicht.« Du magst doch fast niemanden.
»Weil wir am Tag eurer Verlobung eine kleine Unterhal- tung geführt haben. Er sagte zu mir: ›Colonel Parks, ich will einfach nur, dass Jaz glücklich ist. Das ist alles. Es ist ganz egal, wo wir sind oder was wir tun. Ob wir eine Mil- lion Meilen voneinander getrennt sind oder aneinander- kleben. Solange sie glücklich ist, bin ich zufrieden.‹«
Nicht. Weinen. »Warum erzählst du mir das gerade jetzt?«
»Dein Bruder hat angerufen. Er macht sich Sorgen um dich.« Mein Dad hat viel mit einem Pitcher beim Baseball gemein. Er muss zunächst Schwung holen, bevor er den Ball wirft. Ich hätte den Ton in seiner Stimme als Schwung
holen erkennen müssen. Doch das letzte Mal war schon eine Weile her, und ich war abgelenkt.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass du ein verdammtes Wrack bist! Und jetzt hör mir gefälligst zu!«, bellte er. »In so einer Scheiße kannst du absaufen, wenn du es zulässt! Du steckst bis zum Hals in der Scheiße, Jasmine. Willst du so deinen Abgang machen?«
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