Man lebt nur zweimal
behandeln? Mit der gleichen Konsequenz? Dich bei dem ersten Fehltritt in die Verdammnis schicken?«, fragte sie.
»Es kommt natürlich auf die Größe des Fehltritts an. Ansonsten hätte ich nichts dagegen. Da weiß man wenigstens woran man ist.« Sie sah mich genau an. Ich schätze, ich weiß, wonach sie suchte. Doch mit dieser Unbekümmertheit konnte ich nicht mehr dienen. Man verliert sie wohl im Alter. Dieses Leck-mich-am-Arsch-Gefühl. Hatte mir mal jemand nicht die Wahrheit gesagt? War doch wurscht. Hatte er schlecht über mich geredet? Was soll’s? So war ich früher. Leben und leben lassen. Ist doch alles nicht so wichtig. Hauptsache wir haben unseren Spaß. Wenn mich ein Mensch mal nicht einwandfrei behandelt hat, hab ich ihm verziehen. Ich glaube rückblickend aber nicht, dass das tolerant war, sondern eher gleichgültig.
Heute sehe ich das anders. Wenn sich jemand mir gegenüber in einer Weise verhält, die ich nicht gutheißen kann, dann befasse ich mich mit dem nicht mehr. Und zwar ohne Rücksicht auf irgendwas. Auch wenn es ein Freund oder Familienangehöriger ist. Ich weiß, dass ich die Latte hier hoch hänge. Ich kann nur hoffen, dass ich auch selbst immer in der Lage sein werde, sie zu überspringen.
Kann sein, dass sich die Familienstrukturen in den modernen, westlichen Gesellschaften immer weiter auflösen und dass das ein herber Verlust ist. Einen Zusammenhalt um jeden Preis finde ich jedoch genauso verkehrt. Warum soll man den kritischen Verstand ausschalten, sobald es um das Verhalten von Familienmitgliedern geht?
Heute wähle ich meine Kontakte lieber danach aus, wer verlässlich zu mir hält. Damit meine ich nicht, dass mir jeder nach dem Mund reden soll. Im Gegenteil. Ich mag Menschen mit Rückgrat und einer eigenen Meinung.
SCHÖNE BESCHERUNG
Trotzdem bin ich aber noch so sehr Familienmensch, dass ich diese ganzen Festtage zu schätzen weiß. Ich mag sogar Weihnachten. Ich kann auch diese ganzen Lästereien im Vorfeld nicht hören, diese immer gleichen Klagen: Dass es schon im Herbst im Supermarkt Lebkuchen gibt, und dass wir alle so grässliche Materialisten seien und wie viel Strom doch durch die Festtagsbeleuchtung verbraucht würde. Wenn es wenigstens mal neue Jammereien wären, aber die Lamentierer sind auch noch so einfallslos, jedes Jahr mit dem gleichen Sermon aufzutreten.
Ich habe nichts gegen Plätzchen und festliches Licht. Ich finde es auch schön, wenn dann die Freunde der Familie zusammenkommen. In unserem Fall ist Heiligabend zudem so was wie die Vorstufe des modernen Speeddating. Das muss man uns erst mal nachmachen.
Dementsprechend beginnt die Weihnachtsvorbereitung drei Tage vor Heiligabend. Dann ist hier der Teufel los, im Handumdrehen wird das Haus in festtagstaugliche Stimmung versetzt und entsprechend verkleidet.
In 2010 habe ich dann an Familieneinladungen eher ein bisschen gespart und lieber das ganze Ensemble von Doppelzimmer eingeladen, so hieß das Theaterstück, das wir damals in München in der Komödie am Bayerischen Hof gespielt haben. Inklusive Kindern waren da gut zwanzig Leute bei uns.
Weil wir um 17 Uhr in die Kirche wollten, haben wir gesagt: »Kommt doch alle schon früher!« Kurz vor vier ist dann das ganze bunte Volk am Starnberger See eingefallen.
Daraufhin war den Nachmittag lang Rushhour. Schokoweihnachtsmänner wurden vom Baum gezupft und vor Ort verspeist, Deko-Elemente aus der Verankerung gerissen, Geschenke zerrupft und wie ausgeweidete Tiere auf den Fliesen liegen gelassen.
Das Grundprinzip war so einfach wie doch vom kapitalistischen Geiste beseelt: Jeder brachte etwas mit und nahm etwas wieder mit nach Hause. Wie auf einem riesigen Basar. Hauptsache, es wurde irgendetwas ausgetauscht. Für die Kinder war dabei zweitrangig, ob die Geschenke dann bei dem landeten, für den sie eigentlich gedacht waren.
Möglichst ging man mit mehr nach Hause, als man ursprünglich mitgebracht hatte. Das erforderte nicht nur flexible Taschen, Schnelligkeit und kräftige Ellenbogen, sondern vor allem ein gutes Augenmaß. Bücher zum Beispiel waren leicht zu erkennen und wurden sofort links liegengelassen, einige Verpackungen blieben sogar ungeöffnet. Mittelgroße Geschenke wirkten am vielversprechendsten und waren als Erste vergriffen. Um 18 Uhr, nachdem Viktoria dem Letzten etwas auf den Teller getan hatte, gingen die Ersten schon wieder. Und als sie sich das erste Mal hinsetzen wollte, waren alle weg.
Die dachten natürlich, sie müssten uns
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